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Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Titel: Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Autoren: Andreas Altmann
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halten. Ein Kompromiss musste her, der elfte Stock schien die nächstgelegene Anlaufstelle, hier stoppte der Aufzug. Wie auf jeder Etage bewachte eine Angestellte den Flur. Sie saß am äußersten Ende und beobachtete, wer kam. Kamen dem Sozialismus abträgliche Elemente (Huren oder Männer mit Huren), so fand ein Geldwechsel statt. Damit die Aufpasserin nicht aufpasste. Auf meinem Stockwerk schlief das Personal augenblicklich.
    Das Zimmer war in Ordnung, abgesehen von der schweren Hitze. Eine Hochsommersonne loderte und die Heizung ließ sich nicht abstellen. Dass die Spülung erst nach dem vierten (energischen) Zerren funktionierte, machte die Luft nicht angenehmer. Ich dampfte schweißtriefend über der Kloschüssel und wusste wieder einmal, dass die Sowjetunion der rechte Ort war, um Zen zu üben: Nicht den Atem flach werden lassen, eher ruhig weiteratmend die Dinge hinnehmen, wie sie sind.
    Als ich aus dem Zimmer trat, war die hübsche Lydia aufgewacht und blickte streng auf den Mann, der ihr aus dem dunklen Tunnel entgegenschlenderte. Und ich lächelte. Und Lydia lächelte. Beide schienen wir plötzlich glücklich, wohl wissend, dass noch keine Ideologie erfunden wurde, die ein Lächeln zwischen einem Mann und einer Frau hätte verhindern können.
    Beim Abendessen im riesigen Restaurant passierte es. Das von mir bereits mit der Übernachtung bezahlte Abendessen kam nicht. Ich lächelte, ich atmete tief, ich atmete bewusst, ich bettelte. Mehrmals. Mehrmals vergeblich. Einmal wetzte der Oberkellner vorbei und zischelte: »Grupa? Njet!« Da alle anderen gruppenweise die Tische besetzten, so war zu vermuten, wurden Alleinreisende, Asoziale eben, nicht bedient.
    Nun begann ein furchtbarer Konflikt in mir. Ich fragte mich, ob ich jetzt tatsächlich – nach all dem, was zwischen den beiden Völkern vorgefallen war – der böse Deutsche sein wollte. Anscheinend ja, denn der Gutmensch in mir verlor. Ich stand auf und brüllte auf Englisch (um das Schlimmste zu verhindern) nach meiner Bouillon und dem Kotelett. Und etwas Ungeheuerliches geschah. Alle blickten herüber, ein, zwei Sekunden lang völlige Stille, dann donnernder Applaus, begleitet von stürmischem Gelächter. Ich grinste schüchtern, der Oberkellner rauschte an, ein durchaus anregender Tag ging zu Ende.

    ASIEN FÜR ANFÄNGER
    Höre ich das Wort »Asienexperte«, verbeuge ich mich in Ehrfurcht. Wie ich jeden beneide, der sich auskennt. Ich war oft in Asien und kenne mich noch immer nicht aus. Schuld daran hat der Dichter Bert Brecht, der jedem meiner Anflüge zum Besserwissen mit dem poetischen Satz widersprach: »Alles übergab ich dem Staunen, selbst das Vertrauteste.« Ich bin folglich der richtige Mann für diesen Text, ich bin ein Anfänger, ein Stauner.
    In einer Höhle im Norden Kashmirs verbrachte ich einige Wochen mit Sharma, einem Sadhu, der seine Familie verlassen hatte, um »zu suchen«. So nannte er das. Er aß, er bettelte, er meditierte. Nie verspürte er das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Er gab mir das Beste, was einer dem andern schenken kann: seine Begabung zum Glück.
    Eines Abends saßen wir vor dem Eingang seiner Höhle. Warmer Regen fiel, ein kleines Feuer brannte und der Sannyasin erzählte. Hier im Himalaya lebte vor vielen tausend Jahren ein Volk, das immer unterdrückt gewesen war, immer Versager, nie Sieger. Keinen Augenblick atmete es frei und bestimmte sein eigenes Schicksal. Später, viel später, entdeckte man – so die Legende – das Geheimnis dieses unaufhörlichen Bankrotts. Es handelte sich um einen Sprachfehler. Ein einziges, einsilbiges Wort fehlte den Verlierern, das Wort: NEIN. Nein als Zeichen von Eigensinn und Selbstverantwortung.
    Zu Sharmas Geschichte passte ein Tagebucheintrag von Hermann Hesse, der davon sprach, dass ihm ein anderes Wort fehlte, das winzigste Wort von allen, eben: JA. Ja als Ausdruck von Hingabe und Vertrauen. Deshalb machte auch er sich auf den Weg nach Asien, suchte Erlösung vom Los eines Deutschen, der nie aufhören durfte zu denken, nie loslassen konnte, den nichts mehr schreckte als ein paar Stunden sinnlosen Glücks. »Zuversicht üben in das augenblickliche Leben«, das war einer der Sätze, den der Schriftsteller ganz oben in seinem Marschgepäck verstaut hatte.
    Während meiner Zeit in einem japanischen Zenkloster konnte ich jeden Samstagabend eine halbe Stunde lang mit dem Roshi sprechen, dem Leiter. Wozu es nie kam. Anscheinend waren meine Fragen derart komisch, dass der Alte
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