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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre
Autoren: Barbara Wood
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nicht kommen sollte! Das Lucerne Medical College machte an diesem Tag Geschichte. Die Augen der Welt waren auf Professor Henry Jones gerichtet. Sogar aus Michigan war ein Reporter gekommen. Dieser Tag würde über Erfolg oder Mißerfolg seines kühnen und viel kritisierten Experiments – eine Frau an einem Männer-College zuzulassen – entscheiden. Seine Kritiker würden sich diebisch freuen, wenn der Tag mit einer Blamage für ihn enden sollte. In höchster Verzweiflung setzte Professor Jones seine Suche fort.
    »Entschuldigen Sie!«
    Samantha drehte sich um. Ein großer, bulliger Mann, den Hut auf den Hinterkopf geschoben, drängte sich zu ihr durch.
    »Miss Hargrave! Kann ich Sie einen Moment sprechen?« Er hielt einen Stift in der einen und einen Schreibblock in der anderen Hand. »Jack Morley vom
Baltimore Sun.
Ich hätte Ihnen gern einige Fragen gestellt.«
    »Die Prozession fängt gleich an, Mr. Morley.«
    »Wie fühlt man sich als erste Medizinerin, die von einem Männercollege abgeht?«
    »Ich bin nicht die erste, Sir. Dr. Elizabeth Blackwell war mir dreißig Jahre voraus.«
    »Ja, sicher, sie war die allererste, aber seitdem hat es so was nicht mehr gegeben. Dr. Blackwell ist eigentlich nur durch einen glücklichen Zufall ›reingekommen, und nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte, wurden an diesem College keine Frauen mehr zugelassen. Ich hörte, daß Sie erbittert darum gekämpft haben, in Harvard aufgenommen zu werden.«
    {12} »Ich habe mich in Harvard beworben und wurde abgelehnt.«
    »Darf ich fragen, warum Sie gerade in ein Männercollege wollten? Es gibt doch genug Frauencolleges.«
    Samantha legte einen Finger an ihr Kinn. »Mir lag daran, die bestmögliche medizinische Ausbildung zu bekommen, Sir. Da wir in einer Männerwelt leben, in der das Beste den Männern vorbehalten ist, sagte ich mir, daß ich eine solche Ausbildung nur in einem Männercollege bekommen würde. Vielleicht wird sich das eines Tages ändern.« Sie ging davon.
    »Sie reden wie eine Lucy Stoner«, rief der Reporter ihr nach.
    Der Zug bildete sich schon; in Zweierreihen sollten sie in die Kirche einziehen. Über Samanthas Position innerhalb des Zuges hatte es viele Diskussionen gegeben. Schließlich war man überein gekommen, daß sie an Professor Jones’ Arm an der Spitze des Zuges gehen sollte. Doch Samantha hatte es abgelehnt, aufgrund ihres Geschlechts in eine Sonderstellung gedrängt zu werden. Sie war drittbeste Absolventin ihres Jahrgangs, also würde sie auch in der Prozession an dritter Stelle gehen.
    Während Dozenten und Studenten Aufstellung nahmen, hielt Henry Jones noch einmal verzweifelt nach Simon Kent Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken.
    Die Hörner schmetterten, und Henry Jones begab sich eilig an die Spitze des Zugs, um das Zeichen zum Aufbruch zu geben. Die Indianer, Angehörige des Stammes der Senecas in Stammestracht, stimmten auf Trompeten und Posaunen ein blechernes ›America‹ an, und der Zug setzte sich in Bewegung.
     
    Die presbyterianische Kirche, wo alle Gemeindeversammlungen abgehalten wurden, stand am Ortsrand, keine halbe Meile von der Rotunde entfernt. Die Prozession brauchte zehn Minuten, um den Weg zurückzulegen, und in dieser Zeit fand Samantha ihre Ruhe wieder. Doch als die Menge der Männer vor der Kirche in Sicht kam, befiel neue Unsicherheit sie.
    Kutschen und Fuhrwerke aller Art hielten auf dem Platz, Pferde schnaubten ungeduldig, Hunde und kleine Kinder tollten herum, Reporter warteten, Fotografen mit ihren großen Stativkameras; es war wie auf dem Rummelplatz. Viele waren nur Samanthas wegen gekommen. Sie war eine Sensation für die Leute. Aus weitem Umkreis waren sie zusammengelaufen, um dieses kuriose Frauenzimmer zu begaffen, das unter lauter Männern Medizin studiert hatte.
    Vor der Treppe hielt der Zug an, um den Fotografen Gelegenheit zu ge {13} ben, ihre Aufnahmen zu machen. Den Kopf unbewegt, das Gesicht nach vorn gerichtet, ließ Samantha den Blick über die Menge schweifen und zuckte plötzlich zusammen. Joshua!
    Aber nein – der Mann auf der Treppe drehte sich um, und sie sah, daß es nicht Joshua war; nur ein Mann gleicher Größe und gleicher Haarfarbe. Wie albern von ihr, auch nur einen Moment lang zu glauben, er könnte gekommen sein. Mehr als eineinhalb Jahre waren vergangen, seit sie sich gelobt hatte, ihn nie wiederzusehen.
    Samantha straffte die Schultern. Sie hörte, wie das Portal der Kirche geöffnet wurde, und dachte, wenn ich ihn nicht
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