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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre
Autoren: Barbara Wood
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haben kann, will ich überhaupt keinen Mann.
    Während sie mit klopfendem Herzen darauf wartete, daß der Zug sich in die Kirche hineinbewegte, dachte sie, daß es so ähnlich sein müsse, wenn man heiratete. Und in gewisser Weise heirate ich ja auch wirklich, sagte sie sich. Als Miss Hargrave gehe ich in die Kirche hinein und als Dr. Hargrave werde ich wieder herauskommen. Dies ist mein Hochzeitstag, einen anderen wird es nicht geben.
    Während sie nun dort stand, hatte sie das Gefühl, am Ufer eines weiten, von Nebeln verdunkelten Meeres zu stehen, das zu erreichen sie Hunderte von Meilen gegangen war, nur um zu entdecken, daß sie weiter mußte. Vieles hatte sie erreicht, viele Kämpfe hatte sie gewonnen, viele Hindernisse überwunden, und doch hatte sie noch lange nicht das Ende ihres Wegs erreicht. Wohin würde dieser Weg sie führen?
    Wenn nur die Frauen gekommen wären!

{14} {15}
Erster Teil
England, 1860

{16} 1
    Wohl zum dreißigsten Mal in dieser einen Stunde schrie die Frau laut auf. Ihr Schrei zerriß den feingesponnenen Frieden des Frühlingsabends und drang durch alle Mauern des Hauses. Die Hebamme, eine schwarze Silhouette im trüben Licht, beugte sich über die wimmernde Felicity Hargrave.
    »Da stimmt was nicht«, murmelte sie vor sich hin. Sie drückte sich ihre Hand ins Kreuz, richtete sich auf und streckte sich ausgiebig. Dann nahm sie die Flasche mit dem Stärkungsmittel, das sie für Felicity mitgebracht hatte, und nahm einen kräftigen Schluck.
    Diese Geburt ließ sich gar nicht gut an, und der Ehemann, der unten saß, war auch keine Hilfe. Man sollte meinen, ein Mann würde seiner leidenden Frau einen Schluck Arznei gönnen, wenn das die Schmerzen linderte. Aber nicht Samuel Hargrave. Der hatte die Anwendung jeglicher Medizin bei der Entbindung ausdrücklich verboten. Jammerschade, wahrhaftig, zumal Mrs. Cadwalladers Köfferchen besser bestückt war als das der meisten Hebammen in London. Sie führte Opium und Belladonna mit sich; Mutterkorn, um die Wehen einzuleiten und die Blutungen zu stillen; ein Sortiment von Kräutern und volkstümlichen Heilmitteln; und dazu eine Flasche starken Wacholderschnaps.
    Sie korkte die Flasche wieder zu und stellte sie zu Boden, ehe sie sich wieder vornüber neigte und mit ihren kräftigen Händen über den angeschwollenen Leib strich. »Kommen Sie, Kindchen«, schmeichelte sie. »Kommen Sie, lassen Sie’s los.«
    Felicity stöhnte auf und schrie erneut, so markerschütternd, daß Mrs. Cadwallader meinte, man müsse den Schrei bis nach Kent hinunter gehört haben.
    Sie richtete sich auf und schnalzte leise mit der Zunge. »Zwanzig Stunden geht das jetzt schon so«, brummte sie. »Und dabei ist es ihr drittes. Da kann was nicht stimmen.« Sie seufzte tief. »Wird wohl nichts anderes übrig bleiben als die Feder.«
    Schnaufend hob sie ihr Köfferchen vom Boden auf und nahm eine Feder und ein Fläschchen heraus. Nachdem sie das Fläschchen geöffnet hatte, tauchte sie die Feder ganz in das weiße Niespulver und schob sie dann Felicity tief ins Nasenloch.
    {17} »Schön hochziehen, Kindchen. So ist’s gut.«
    Mrs. Cadwallader ließ sich zwischen Felicitys gespreizten Beinen wieder auf die Knie sinken und machte sich auf die unvermeidliche Konsequenz ihrer Aktion gefaßt – ein explosives Niesen und die jähe Ausstoßung des Kindes.
    Felicity Hargrave stöhnte laut, als die nächste Wehe sich ankündigte. Sie holte einmal tief Atem, hielt einen Moment die Luft an und nieste dann so gewaltsam, daß es ihren Körper in die Höhe schleuderte. Gleichzeitig schoß ein kleines Beinchen aus dem Geburtskanal, den Mrs. Cadwallader eine Stunde zuvor mit Gänseschmalz eingefettet hatte.
    Die dicke Hebamme zog die Brauen hoch. »So ist das also. Tja, da kann ich beim besten Willen nichts mehr tun.«
     
    Der Mann und die beiden Jungen saßen mit düsteren Gesichtern um den Eßtisch. Ihre Köpfe waren gesenkt, und die Hände hatten sie vor sich gefaltet. Das Geschirr war abgeräumt; nichts stand auf dem Tisch außer der Öllampe, die die drei Gesichter in gelbliches Licht tauchte. Samuel Hargrave, Felicitys Mann, betete; Matthew, der Sechsjährige, starrte mit kohlschwarzen Augen in das Licht der Lampe; James, der Neunjährige, knetete seine Hände und kaute auf der Unterlippe. Immer wieder sah er seinen Vater hilfesuchend an, doch er bekam keinen Beistand.
    Samuel Hargrave, in tiefer Zwiesprache mit Gott, hatte die Hände so fest ineinander gekrampft, daß die Knöchel
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