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Sturm über Freistatt

Titel: Sturm über Freistatt
Autoren: Robert Asprin
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die Kaserne hatte torkeln sehen – gewiß um seinen Rausch auszuschlafen. Harran hatte beabsichtigt gehabt, sich zweimal in den Tempel zu begeben: einmal, um sich die alte Leinenschriftrolle zu holen, und dann, nachdem er sie studiert hatte, um das Ritual durchzuführen.
    Ein paar Sekunden verschob Harran es noch, wieder in die Kälte hinauszuschleichen. Seit jenem Tag vor fünf Jahren, als die Rankaner Irik den Erlaß ausgehändigt hatten, war er nicht mehr in Sivenis Tempel gewesen. Solange wollte ich nichts mehr mit Tempeln zu tun haben! Und jetzt in einen – in ihren – zu gehen … Will ich wahrhaftig diese alte Wunde wieder aufreißen?
    Er blickte auf die magere, zuckende Gestalt in der Asche und grübelte. »Jeder Tempel braucht einen Schwachkopf«, hatte der alte Meisterpriester einst scherzend zu Harran gesagt. Harran hatte gelacht und ihm zugestimmt. Er hatte sich gerade mitten in einer Lektion befunden, die er nicht zu meistern vermochte, und gedacht, daß er als Schwachkopf genügen würde, selbst für zwölf Tempel. Jetzt – im Exil – fragte sich Harran flüchtig, ob er vielleicht in Gedanken immer noch in einem Tempel lebte und ob er die arme Schwachsinnige aufgenommen hatte, weil sie so sehr der armen Irren glich, die in Sivenis Tempel herumlungerten – zu jener Zeit, als dort noch Weisheit und Heilung und etwas zu essen zu bekommen waren. Weisheit und Heilung waren ihm nicht in großem Maß gegeben. Und Mriga beschwerte sich nie über das Essen. Oder über sonst etwas …
    Er fluchte leise, stand auf und kleidete sich an. In dem Kästchen, das er unter die Kommode geschoben hatte, befanden sich die Knochen der Hand: In der richtigen Gebärde mit Draht zusammengefügt und den Ring aus Eisen an den richtigen Finger gesteckt. Daneben die Alraune, hastig mit Seiden- und Metallfäden gebunden und mit einer versilberten Stahlnadel durch den ›Körper‹, damit sie nichts anrichten konnte. Sowohl Haarnadel wie Ring stammten von einer zweitklassigen Hure, die Yuri vor kurzem zur Kaserne gebracht hatte. Harran, der als letzter an der Reihe gewesen war und sich leichte Sorgen gemacht hatte, daß der Dirne möglicherweise auffallen würde, wenn ihre Dinge ›verschwanden‹, hatte ihr ›zuvorkommenderweise‹ einen Becher mit Schlafmittel versehenem Wein spendiert. Dann vergnügte er sich mit ihr, bis das Mittel wirkte, und eignete sich Ring und Nadel an. Doch ehe er ging ließ er ein paar Münzen für sie zurück – an einer Stelle, wo sie nur ihr auffallen würden.
    So hatte er nun alles – oder fast. Er hob das Kästchen auf, trat zur Ecke, wo der Tisch stand, und steckte sich noch ein paar Dinge ein: eine Flasche, einen kleinen Beutel mit Weizenkörnern, einen zweiten mit Salz und einen Brocken Erdpech. Dann sah er sich rasch noch einmal um. Mriga lag schnarchend in der Asche. Tyr hatte sich unter dem Bett zusammengerollt, auch sie schnarchte, doch etwas höher als Mriga. Harran knüllte die Decken so zusammen und zog sie über das Kopfkissen, daß es aussah, als läge er darunter. Dann warf er sich seinen alten schwarzen Umhang um und schlich zu den Pferdeställen. An der Ecke des dritten in der Reihe gab es eine Möglichkeit, über die Mauer zu gelangen. Die Schindeln hoch, dann mit einer Hand an der Regenrinne festklammern und Halt für die Füße an den alten Ziegeln finden, die stellenweise ein Stück aus der Wand ragten. Und auf der Mauerkrone angekommen, mußte er auf der anderen Seite hinunterspringen. Ehe er sich zu diesem ziemlich tiefen Sprung wappnete, schaute Harran zurück – und bemerkte, die kaum wahrnehmbare Gestalt, die reglos an der Kasernentür stand.
    Harran erstarrte. Die Nacht war mondlos, die Fackeln an der Tür auf ein schwelendes Blau hinuntergebrannt. Es war nichts zu sehen, nur das schwache Blitzen von Augen, als dieses Licht flüchtig seitwärts auf sie fiel, während die schattenhafte Gestalt tiefer in die Dunkelheit eindrang und verschwand.
    Harran sprang und hielt nur kurz an, um seinen Atem wiederzufinden. Dann rannte er. Wenn er den Tempel rechtzeitig erreichte, um tun zu können, was er beabsichtigte, brauchte er auch eine große Zahl von Verfolgern nicht zu fürchten. Die Rankaner im ganzen Reich – und die Beysiber ebenfalls – würden vor dem fliehen, was erschien.
    Wenn ihm die Zeit reichte …
     
    Der Tempel von Siveni Grauaugen war der vorletzte am jetzt heruntergekommenen Südende der Tempelallee. Früher hatte dieser Tempel sehr geachtete Nachbarn
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