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Stoff für viele Leichen

Stoff für viele Leichen

Titel: Stoff für viele Leichen
Autoren: Léo Malet
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dieses Geschwätz?“ schrie er.
    „Er ist zurückgekommen“, mischte sich Esther
ein. „Ich habe dir nichts gesagt, weil ich ihn noch nicht gesehen habe. Aber
ich weiß, daß er da ist. Und Monsieur Burma soll uns beschützen. Darum habe ich
ihn angerufen.“
    Er kam wieder zu sich.
    „Das ist ja ganz was Neues“, sagte er. „Du
nimmst uns jetzt unter deine Fittiche? ... Ich brauche keinen Schutz!“ fügte er
barsch hinzu. „Ich kann mich schon alleine verteidigen. Einmal hab ich ihn
schon erledigt. Und ich werde ihn noch einmal erledigen!“
    „Er ist ein Dickkopf“, wiederholte ich. „Ein
Mensch, der ohne Zögern seinen kleinen Finger geopfert hat, um sich die hundert
Francs zu beschaffen, die er brauchte, um seine Geliebte zu treffen, solch ein
Mensch ist zu allem fähig.“
    „Was wollen Sie damit sagen?“
    „Erzählen Sie ihm die Geschichte, Monsieur
Burma“, bat mich Esther mit sanfter Stimme, so hinterhältig wie ein seifiger
Abhang.
    Ich kam ihrer Bitte nach. Es mißfiel mir ganz
und gar nicht, diesen René Levyberg ein wenig das Fürchten zu lehren. Er hörte
meinem Bericht ohne jede sichtbare Gefühlsregung zu. Als ich fertig war,
betrachtete er lange seine rechte Fland, schweigend, wie fasziniert. Er streckte
die Finger, spreizte sie, schloß die Hand. Vielleicht bedeutete diese Gymnastik
irgendetwas für ihn. Für mich waren das hebräische Dörfer, wenn ich so sagen
darf. Dann vergrub er seine Hand in der Hosentasche, so als störte sie ihn.
    „Und wohin soll diese Unterhaltung führen?“
fragte er gereizt.
    „Ins Nichts, fürchte ich“, sagte ich seufzend.
„Aber wenn man schon eine Zunge hat, soll man sie benutzen, meinen Sie nicht
auch?“
    Er zuckte die Achseln.
    „Meine Zeit ist kostbar“, knurrte er.
    Und nach diesen bedeutungsstarken Worten aus den
„Leitfäden für den erfolgreichen Geschäftsmann“ drehte er sich auf dem Absatz
um und verschwand ohne jede weitere Höflichkeitsfloskel hinter dem Wandbehang.
    „Das war’s“, sagte Esther.
    Sie lachte nicht mehr. Ihre Stimme hatte sich
verändert. Tonlos, erschöpft. Sie nahm ihren Kopf in beide Hände und flüsterte:
    „Immer diese Szenen... immer...“
    Ihr ganzer Körper wurde geschüttelt. Sie begann,
leise zu weinen. Ich ging zu ihr, klopfte ihr leicht auf die Schulter und
murmelte etwas Beruhigendes. Die Wirkung ließ etwas auf sich warten. Endlich
aber wurde sie ruhiger. Sie suchte ein Taschentuch, wischte sich die Tränen ab,
schluchzte noch einmal auf, zog die Nase hoch, und dann klagte sie mir ihr
Leid: Sie sei mit den Nerven am Ende, all diese Zankereien erschöpften sie und
so weiter, das übliche Gejammer. Ich goß ihr etwas Wasser ins Glas, ließ sie
trinken. Mir gönnte ich auf den Schreck hin einen anständigen Aperitif. Nach
ein paar Sekunden sagte ich:
    „Also, Alice. Sie sind jetzt meine Klientin. Was
soll ich tun? Ein klein wenig mehr Informationen könnten mir vielleicht
weiterhelfen... Wenn Ihnen diese Unterhaltung nicht zu anstrengend ist...“
    Sie antwortete nicht sofort. Schließlich sagte
sie:
    „Ja. Ich bin völlig erledigt. Kommen Sie wieder.
Kommen Sie, wann Sie wollen. Ich möchte, daß Sie mich häufig besuchen. Aus
Mitleid darüber, was aus Alice geworden ist...“
    „Dieser Brief...“
    „Ich werde ihn suchen...Ich kann ihn unmöglich
verlegt haben... Ich werde ihn schon wiederfinden...“
    „Bestimmt“, pflichtete ich ihr lebhaft bei.
    Sie fing wieder an, ihre Finger zu kneten. Ich
hatte keine Lust mehr auf eine zweite Szene.
    „...Ich würde gerne wiederkommen, aber ich weiß
nicht, ob ihr Bruder...äh...“
    Sie lächelte traurig:
    „Wir haben nicht mehr 1930“, sagte sie.
    Sie strich sich über die Haare, dort, wo die
schwarze Pracht die Narben der Verbrennungen verbarg.
    „Mit dem Alter hab ich mir das Recht erworben,
meinen Umgang selbst auszusuchen. Haben Sie Angst?“
    „Vor Ihrem Bruder?“
    „Ja.“
    „Hören Sie mal
    „Sie kommen also wieder? Bestimmt?“
    „Bestimmt.“
    „Kommen Sie bald. Ich frage mich manchmal, wie
lange ich noch zu leben habe. Mein Herz ist krank...“ Ihre Stimme wurde
theatralisch. „Spüren Sie, wie es schlägt... so stark...so stark...“
    Sie ergriff meine Hand und hielt sie auf ihre
linke Brust. Der klassische Trick. Verlegen zog ich meine Hand zurück, die sich
das offenbar von ihr erwartete Abtasten verkniffen hatte.
    Esther brachte mich hinaus. Durch die offene Tür
einer Bibliothek sah ich einen Mann, der die Bücher in den
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