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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M
Autoren: Bernd Ulbrich
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Schultern. »Wie verhalten wir uns?«
»Abwarten«, sagte Gould. »Auf alle Fälle jedes Wort überlegen. Nicht provozieren lassen, nicht einmischen. Wir sind wie in einem fremden Land; die lokalen Bedingungen sind ihre Angelegenheit. Wir gehen auf alles ein, was sie äußern.«
Simak zeigte sich nachdenklich. »Vielleicht betrachten sie uns als Störenfriede. Vielleicht wollen sie nichts anderes, als in Ruhe gelassen werden.«
»Unsinn«, erwiderte Gould. »Ihr Dasein muß Maßstäben gehorchen, und die sind menschlich.« Simaks Schlußfolgerung erschien ihm oberflächlich.
»Stell dir vor«, fuhr Simak unbeirrt fort, »du wärst hierher verschlagen. Um zu überstehen, reicht die einfache Reproduktion deiner physischen und psychischen Leistungskraft nicht aus. Motivationen werden nach außen verlegt! Und wäre es die reinste Wüstenei, du wärst gezwungen, Liebe zu dem Land zu entwickeln. Das ist selbsterhaltend. Einmal vorhanden, reproduziert sie sich selber und erzeugt gerade so viel an überschüssiger Energie, wie sie verbraucht. Ein psychisches Perpetuum! Aber es ermöglicht die Vorstellung von innerer Dynamik.«
»Ich würde es andersherum formulieren«, hielt ihm Gould entgegen. »Ihre innere Dynamik besteht in einer Sehnsucht. Sie leben mit Erinnerungen. Man kann eine Wüste lieben, wenn man die Gewißheit hat, sie verlassen zu können.«
Simak sah ihn skeptisch an. »Warum jubeln sie dann nicht?«
Gould blickte prüfend um sich. »Vielleicht gehört es zu ihrer Art.« Er musterte die archaisch einfache Kleidung der Leute, die sich in distanzierendem Rund um sie herum versammelt hatten.
»Sie haben sich ihr Glück geschaffen«, flüsterte Simak.
»Ich glaube, es ist scheinbar«, antwortete Gould. Die Art und Weise, wie Simak seinen Gedanken ignorierte, mißfiel ihm. »Wir sollten uns überlegen, wie wir sie auf die Rückkehr vorbereiten.«
»Vielleicht wollen sie bleiben«, sagte Simak. »Wir sind in politischer Mission hier. Was immer sie anstreben, es wird respektiert.«
Wiederum empfand Gould einen geheimen Ärger, daß er Simak ein Argument in die Hände gespielt hatte. Es erweckte Besorgnis in ihm, daß dieser es undifferenziert benutzte. »Angenommen«, sagte er, »sie sind in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt«, er vermied es, das Wort manipuliert zu benutzen, »dann müßten wir ihnen nach bestem Wissen und Gewissen, dabei helfen.«
»Wie willst du das herausbekommen? Und überdies, nach zweihundertfünfzig Jahren ist es recht zweifelhaft, ob man überhaupt noch irdisches Wissen und Gewissen in Anwendung bringen kann. Hätten wir noch ein Recht dazu? Kaum noch ethnologisch und auf keinen Fall juristisch sind sie als Angehörige der irdischen Zivilisation zu betrachten.« Simak blickte ihn aus hellen Augen an. »Wie also wollen wir uns auf irdische Maßstäbe berufen?«
Was störte ihn an Simaks Eifer? Er mochte nichts weiter als besorgt sein. Welche Absicht wähnte Simak bedroht? Gould warf einen Blick in die Runde. Zu fünft oder sechst hockten sie beisammen, standen wohl auch in kleinen Gruppen. Sie machten einen friedlichen, ja, willfährigen Eindruck. Waren sie in ihr Schicksal ergeben? Keine Mundbewegung, keine Geste deutete darauf hin, daß sie einander Meinungen mitteilten, daß die Geschehnisse sie erregten. Wenn doch, so geschah es in gespenstischer Ausdruckslosigkeit. Nichts weiter erreichte ihn als die dumpfe Distanz ihrer Blicke. Selbst Kinder trugen diesen Ausdruck in den Augen. Greise verbargen auch noch den Schimmer hinter den Krusten hundertjähriger Runzeln. Ihre Augen waren blinde Spiegel. Tränenlos waren sie erkaltet. Verharrte die Menge gespannt oder resigniert?
Der Vorhang über dem Eintritt des Zeltes wurde zurückgeschlagen. Ein Mann mittleren Alters, von untersetzter Statur, trat ihnen entgegen. Das kräftige, dunkle Haar trug er in der Mitte gescheitelt. An den Enden war es zu zwei kurzen Zöpfen geflochten. Seine Kleidung war so schmucklos wie die aller anderen. Sachlich, ohne eine Spur von Herrschergebaren, verkündete er: »Ich bin Wendolin.« Sie erwiderten den Händedruck. Sie nahmen seine Kraft wahr und deuteten sie als Zeichen des Entgegenkommens. »Darf ich euch bitten, näher zu treten! Ich nehme an, wir haben einander mehr zu erzählen, als sich im Stehen erledigen ließe.«
Das Innere der Behausung spiegelte ein auf Wesentliches gerichtetes Lebensgefühl wider. Aus der Not mochte eine Tugend geworden sein. Die Einrichtung erinnerte an die Wohnstätten
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