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Stoerfall in Reaktor 1

Stoerfall in Reaktor 1

Titel: Stoerfall in Reaktor 1
Autoren: Wolfram Hänel
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Protokolle der Störfälle, die wir allein in diesem Jahr in Wendburg hatten, die aber nie gemeldet wurden. Außerdem finden Sie im Anhang Material, das belegt, wie wir seit Jahren ausschließlich wirtschaftliche Aspekte vor jede Sicherheitsüberlegung stellen und damit wiederholt Risiken provoziert haben, die schon längst die sofortige Stilllegung des Werkes erforderlich gemacht hätten. Und ich darf Ihnen versichern«, redet er laut weiter, um die entstandene Unruhe zu übertönen, während er bereits die Mappen an die Presseleute verteilt, die sie ihm nur zu gerne abnehmen, »ich darf Ihnen versichern, dass sich die Situation aufgrund der Entscheidung zu einem generellen Ausstieg aus der Kernenergie nochmals deutlich verschärft hat. Die beteiligten Energiekonzerne setzen jetzt alles daran, in der noch verbleibenden Laufzeit den höchstmöglichen Profit abzuschöpfen, ohne jegliche Bedenken wegen der dadurch noch weiter ansteigenden Risiken. So viel zum Thema Sicherheit von Kernkraftwerken, machen Sie das Beste daraus. Für Rückfragen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung – und ich werde sicher genug Zeit für Sie haben, da ich heute Mittag mit sofortiger Wirkung meine Kündigung eingereicht habe.« Er dreht sich zu dem Direktor, der fassungslos versucht, die Kontrolle über das Geschehen zurückzugewinnen. »Der Brief muss schon auf Ihrem Schreibtisch liegen.«
    Der Tumult, der jetzt losbricht, ist gewaltig.
    Koschinski und Müller wollen auf einen Zuruf des Direktors hin offensichtlich nach vorne stürmen, um den Presseleuten die Mappen wieder abzunehmen, aber Hannah lässt direkt vor Koschinski ihr Tablett fallen, Koschinski stolpert und rutscht weg, Müller kann nicht schnell genug stoppen, prallt mit seinem Kollegen zusammen und stürzt dann seitwärts ins Buffet. Wenn Lukas es in der Sekunde danach richtig mitbekommt, ist es Hannah, die mit einem Ruck das Tischtuch wegzieht und Koschinski und Müller damit unter den Platten mit Käsehäppchen und Fischfrikadellen begräbt.
    Im gleichen Moment steht Lukas’ Vater auf und ruft in den Tumult hinein: »Für mich gilt das Gleiche. Auch ich habe heute meine Kündigung eingereicht. Und … äh …« Lukas’ Vater ist es nicht gewohnt, vor vielen Leuten zu sprechen, er blickt sich unsicher um, bevor er die nächsten Sätze dann so schnell hervorstößt, dass selbst Lukas Mühe hat, ihn zu verstehen, zumal die Unruhe nach dieser Nachricht eher noch weiter angestiegen ist. »Ich möchte mich kurz vorstellen, mein Name ist Arnold, ich bin hier in der Verwaltung als Sachbearbeiter, seit neun Jahren jetzt, nächste Woche werden es zehn, und ich bin unter anderem zuständig für die Auftragsvergabe an Zulieferfirmen und … äh … Meine Tochter hat Leukämie!«, setzt er unvermittelt hinzu und greift nach einem Weinglas, um dessen Inhalt in einem Zug hinunterzustürzen.
    Als sein Blick Lukas streift, verzieht er sein Gesicht zu einem entschuldigenden Lächeln. Lukas fällt nichts Besseres ein, als zu nicken und den Daumen zu heben. Mann, Alter, denkt er, ich fürchte, ich bin es, der sich entschuldigen muss! Aber warum hat sein Vater nichts gesagt? Dann hätten sie sich zumindest viel Frust zu Hause erspart … Gleichzeitig weiß er, wie die Antwort auf seine Frage lauten würde, und er merkt, wie ihm schwindlig wird. Er hat aus dem gleichen Grund geschwiegen wie Hannahs Vater, denkt er, sie hatten Angst um uns, sie wollten uns da nicht mit reinziehen …
    Sein Vater setzt wieder an, um noch etwas zu sagen, als zwei Techniker in den Konferenzraum gerannt kommen, beide tragen Schutzanzüge und haben ihre Atemmasken um den Hals. Sie bahnen sich einen Weg zu Hannahs Vater, Lukas hört etwas von »Reaktor 1«, dann stürzt Hannahs Vater auch schon hinter ihnen her zur Tür.
    Das Chaos ist perfekt: Der Direktor hat ein Handy in der Hand und telefoniert, der Anzugträger vom Energiekonzern redet hektisch auf ihn ein, der Bürgermeister leert in schneller Folge ein Sektglas nach dem anderen, Koschinski und Müller haben sich unter dem Tischtuch hervorgearbeitet und versuchen jetzt, wenigstens die Presseleute auf Abstand zu halten, die den Direktor umlagern. Ein paar Gäste drängeln zum Ausgang, als wollten sie bloß noch rechtzeitig weg. Rechtzeitig wofür, fragt sich Lukas, was ist los? Was wollten
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