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Stirb, mein Prinz

Stirb, mein Prinz

Titel: Stirb, mein Prinz
Autoren: Tania Carver
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vom Licht, wie man überhaupt nur sein konnte.
    Dafür war Paul jetzt wieder draußen. Konnte das Gesicht in die Sonne halten. Die Augen schließen. Die frische Luft einatmen. Sich darauf besinnen, was wirklich wichtig war. Dass er immer noch so leben konnte wie jetzt in diesem Moment. Mit dem Gesicht zur Sonne, wenn er es nur wollte. Die Augen schließen. Atmen. Loslassen. Das alles war immer noch möglich. Er musste nur fest genug daran glauben.
    Durfte sich nicht zurücklocken lassen. Zurück in die Höhle.
    Ins Dunkel.
    Er schloss die Augen. Saß auf dem Boden. Wieder an seinem Ort. Seinem heiligen Ort. Seinem ganz besonderen Ort. Er versuchte, innere Ruhe zu finden. Schaffte es nicht.
    Wegen des Lärms da draußen. Und der Leute. Was machten die da eigentlich? Rannten herum und redeten laut, ihre Autos quietschten und kreischten, ihre Stimmen wehten mit der Luft zu ihm herüber. Wie sie redeten. Redeten, redeten, die ganze Zeit redeten. Ohne dabei etwas zu sagen. Wie Störgeräusche im Radio. Bloß Lärm. Unerträglicher Lärm. Er hatte Kopfschmerzen davon bekommen.
    Und dann hatte er den Jungen gesehen.
    Wie er aus dem Opferhaus gebracht wurde. Der Junge hatte geschrien und getreten. Gezappelt und um sich geschlagen. Geweint.
    Und Paul hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Hatte sich die Arme um den Kopf geschlungen, auf die Ohren gepresst. Damit er den Lärm nicht hören musste. Den Lärm, den der Junge machte. Der schreiende Junge.
    »Nein … nein …«
    Darum ging es doch gar nicht. Darum war es nie gegangen. Nie. Nein … nicht darum. Er hatte versucht, es zu verhindern. Hatte versucht …
    Und wozu hatte das geführt?
    Der Junge schrie immer weiter.
    Paul sang vor sich hin, wieder und wieder dieselben Worte. Wiegte sich vor und zurück. Um den Lärm auszublenden, die bösen Geister fernzuhalten. Lieder aus längst vergangener Zeit. Einer Zeit des Glücks. Fröhliche Lieder. Lieder von Gemeinschaft und Zusammensein.
    Aber es nützte nichts. Er hörte die Schreie des Jungen trotzdem. Sah seine Tränen. Spürte seine Angst.
    Irgendwann war es vorbei. Der Junge schrie nicht mehr. Zumindest war er nicht mehr in der Nähe. Jetzt waren nur noch die Leute in den blauen Overalls mit ihrem Lärm übrig.
    Er wagte es, einen Blick auf sie zu werfen. Nur einen ganz kurzen Blick. Sah sie im Opferhaus verschwinden.
    Wusste, was sie dort finden würden.
    Zog sich mit klopfendem Herzen zurück.
    Er wusste, was sie finden würden. Wusste …
    Und er wusste noch etwas anderes: Sie würden immer weitersuchen. Als Nächstes würden sie in sein Haus kommen und ihn finden. Und dann … und dann …
    Das durfte nicht passieren. Auf keinen Fall. Nein.
    Also kauerte er sich so klein zusammen, wie er nur konnte. Er war wieder ein Kind, wieder im Mutterleib.
    Wieder glücklich.
    Kauerte sich zusammen. Hoffte, dass sie ihn nicht finden würden.
    Wenigstens saß er nicht in der Höhle.
    Das war immerhin etwas.
    7 »Also«, sagte Phil. »Zum weiteren Vorgehen.«
    Er wollte zurück nach oben, die Sonne auf der Haut spüren, frische, klare Luft atmen. Aber das ging nicht. Noch nicht.
    Er wandte sich an Mickey. »Was haben wir von dem Mann erfahren, der die Sache gemeldet hat?«
    Mickey konsultierte seine Notizen. »Es waren zwei. Abrissarbeiter. Auf dem Grundstück ist ein Neubauprojekt geplant. Sie wurden beide ins Krankenhaus gebracht. Der Jüngere wurde gebissen und musste behandelt werden. Hat die ganze Zeit was von irgendwelchen alten Comics erzählt. Vermutlich Schock.«
    Phil runzelte die Stirn. »Comics?«
    » Haus der Geheimnisse und Haus der Mysterien «, klärte Mickey ihn auf. Dazu musste er nicht in seinen Notizen nachschauen. »Zwei Brüder, die sich immer wieder gegenseitig umgebracht haben. Und zwischen ihren Häusern lag ein Friedhof.«
    »Aha. Wir brauchen –«
    Phil verstummte, als sein Blick erneut auf den Käfig fiel. Das inszenierte Grauen lähmte ihn. Der Käfig, die Blumen, die Symbole an den Wänden, die Werkbank wie ein Altar … Im Keller, der von Tatortlampen beleuchtet war, herrschte eine Atmosphäre gespannter Erwartung, als sei er eine Bühne, auf der alles bereit war für den Auftritt der Schauspieler, nur wusste noch niemand, dass die Vorstellung ausfallen würde. Ihm drehte sich der Magen um vor Abscheu, aber gleichzeitig rief der Anblick auch noch ein anderes Gefühl in ihm wach: Faszination. Das handwerkliche Geschick, die Sorgfalt … der Käfig war wunderschön, ein Kunstwerk.
    Er trat näher,
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