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Stillmanns Münzen (German Edition)

Stillmanns Münzen (German Edition)

Titel: Stillmanns Münzen (German Edition)
Autoren: Christian Sidjani
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Geschwisterpaar ihn weiter anstarrt und die Gäste an ihm vorbei strömen, sieht er diesen Mann. Denselben Mann, den ich sah, zwei Tage bevor ein Artikel über seinen Selbstmord in der Zeitung stand, derselbe Mann, über den mein Begleiter sprach, er werde bald sterben, und auch Michael weiß es sofort. Nicht weil ihm das jemand sagt, sondern weil er es sieht.
    Als er den Mann betrachtet, auch er bleibt stehen um sich zu verabschieden, sieht Michael die weiße Blässe in seinen Augen, das kalte, fahle Gesicht eines Toten. Eine wandelnde Leiche. Und als er sich weiter umsieht, zu anderen Gästen, fallen ihm die seltsamsten Merkmale auf. Krallen anstatt von Händen; Knochen, die aus Nacken ragen; Blut besudelte Hemden; mit schwarzen Tumoren übersäte Gesichter; Schnitte, Wunden, Beulen; noch mehr Knochen, gebrochen. Michael erblickt eine Armee von wandelnden Toten, aber auch, worin sie sich unterscheiden: Bei einigen sind die Verunstaltungen, oder Todesursachen, so klar zu erkennen, als wären sie schon eingetreten, bei anderen hingegen, und das scheint bei den meisten der Fall, erscheinen die Merkmale nur schemenhaft, als bräuchten sie noch wesentlich mehr Zeit, um sich richtig zu entwickeln. Michael sieht nicht nur, woran die Menschen sterben werden, sondern auch, wann das ungefähr sein wird.
    Als er zu David und Maria schaut, sieht er ihnen an, dass sie noch lange zu leben haben werden, und dann wahrscheinlich eines normalen Todes sterben. Zumindest sieht er nicht einmal schemenhaft Wunden oder Brüche. Anders verhält es sich mit André, der zu ihnen stößt und sich konspirativ mit den beiden unterhält, dabei verstohlen in Michaels Richtung blickt. Es geht um seine Augen wohl, mit denen tatsächlich etwas nicht stimmt, aber anders als David und Maria denken. Andrés Gesicht ist bläulich angelaufen, als wäre er erstickt, und das Bild ist so klar, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis es eintritt. Ein Unfall vielleicht. Macht André nicht gerne Urlaub auf den Malediven? Schwimmen gehen?
    Noch unterhalten sie sich nur und kommen nicht näher, also bleibt Michael weiter am Pult stehen und hält sich fest, weil ihm wieder schwindelig ist. Er hat keine Angst, nicht einmal Angst davor, wahnsinnig zu werden bei dem, was er sieht. Das Ganze erscheint ihm so surreal, dass er glaubt, noch zu träumen. Real kann es nicht sein. Oder er hat Drogen genommen, aber wo soll er sie genommen haben und von wem bekommen? Michael ist so unbedarft, dass er nicht einmal wüsste, wo er sich etwas besorgen sollte, wenn er es denn wollte. Dieser Zombietanz um ihn herum ist so skurril, dass er beinahe loslacht. Dann hätten sie tatsächlich einen Grund, ihn für verrückt zu halten. Also verstummt er, bevor seine Stimme überhaupt an Klang gewinnen kann.  
    Unter all den Entstellten entdeckt er eine andere Gestalt. Sie pellt sich aus den Couchecken beim Ausgang durch die Masse heraus, auf ihn zu. Ein gerader Weg, durch Menschen hindurch, oder anders, die Menschen wandern durch sie. Schwarze Kutte, goldener Schein, ein Lächeln in der Unsichtbarkeit. Ein Gesicht sieht Michael nicht, die Kapuze ist tief hinunter gezogen. Als die Gestalt sein Pult erreicht, möchte Michael fragen, wo denn seine Sense sei, denn er sei doch der Tod, oder nicht? Um all die Menschen zu sich zu holen. Darum sind sie so entstellt, weil sie schon längst tot sind. Aber Michael sagt nichts und wartet ab. Zeit wie eingefroren, ein Moment in der Ewigkeit.
    „Das hast du nun davon“, sagt die Gestalt, „aber ich muss zugeben, es ist schwer, diesem Drang zu widerstehen. Du hast jetzt eine Gabe, lieber Michael, nutze sie weise. Wenn es nach mir ginge, ich hätte die Münzen schon längst vernichtet. Aber daran kann jetzt niemand mehr etwas ändern. Ich bin nur hier, um mich zu verabschieden. Alles andere haben wir gestern besprochen, alles Wichtige. Und mit der Zeit, nun, du wirst dich schon erinnern, Michael. Bis dahin, wenn du einen Rat von mir möchtest, schweige über das, was du siehst. Verstehst du?“
    Einen kurzen Moment blickt Michael in das Gesicht der Gestalt, aber es sind Tausende und keins, ein golden schimmernder Schemen, offen für jede Interpretation. Die Gestalt entfernt sich, auf denselben Weg zurück in den Hintergrund. Ein Detail, das verschwindet.
    Was für ein Traum, denkt er, als die normale Zeit ihn wieder hat. Da vernimmt er schon die bellende Stimme seines Vorgesetzten.
    „Was bildest du dir eigentlich ein, Michael?! Hier so zu
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