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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo
Autoren: Anne Perry
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kommt vielleicht doch noch durch. Kann man nie wissen. Armer Teufel. Wie auch immer, Sie werden jetzt wohl den sehen wollen, den ich da habe.« Es war keine Frage. Er war lange genug hier, um die Antwort zu kennen. Junge Polizisten wie Evan kamen niemals aus einem anderen Grund.
    »Vielen Dank«, erwiderte Evan, der eine jähe Woge der Erleichterung verspürte, weil der junge Mann noch lebte. Jetzt erst wurde ihm bewußt, wie sehr er diese Mitteilung erhofft hatte. Und doch bedeutete dies gleichzeitig, daß dem Jungen noch sehr viele Schmerzen bevorstanden und ein langer, mühsamer Kampf um seine Genesung. Evan dachte mit Schaudern an die Zukunft und an die Tatsache, daß er selbst eine gewisse Rolle darin spielen würde.
    Er folgte dem Angestellten an in Reih und Glied aufgestellten Tischen vorbei, die mit Laken abgedeckt waren, unter denen sich zum Teil die Umrisse von Leichen erkennen ließen. Seine Schritte hallten durch die Stille des Raumes. Das Licht war grell und wurde von den kahlen Wänden reflektiert. Nirgendwo waren Zugeständnisse an die Lebenden zu entdecken. Sie waren Eindringlinge hier.
    Der Angestellte blieb vor einem der Tische stehen und zog langsam das Laken herunter, um den Leichnam eines leicht untersetzten Mannes von durchschnittlicher Größe und in mittleren Jahren zu enthüllen. Riley hatte ihn kaum gesäubert, vielleicht damit Evan seine eigenen Schlußfolgerungen ziehen konnte. Ohne die Bekleidung konnte man nun das ganze furchtbare Ausmaß seiner Verletzungen sehen. Der ganze Leib war mit Prellungen übersät, die an den Stellen, an denen er innerlich geblutet hatte, schwarz und von einem stumpfen Purpur waren. An manchen Stellen war die Haut aufgerissen. Mehrere der Rippen waren offensichtlich gebrochen.
    »Armer Teufel«, wiederholte der Angestellte mit zusammengebissenen Zähnen. »Hat wie ein Wilder gekämpft, bevor sie ihn geschafft haben.«
    Evan blickte auf die Hand herab, die direkt vor ihm lag. Die Knöchel waren aufgeplatzt, und mindestens zwei der Finger waren ausgerenkt. Bis auf einen einzigen waren alle Nägel abgerissen.
    »Die andere Hand sieht genauso aus«, meinte der Angestellte. Evan beugte sich vor und nahm die Hand sachte auf. Der Angestellte hatte recht. Die rechte Hand war womöglich in noch schlimmerem Zustand als die linke.
    »Wollen Sie auch seine Kleidung sehen?« fragte der Angestellte nach einigen Sekunden.
    »Ja, bitte.« Vielleicht würde die Kleidung ihm irgendwie weiterhelfen, womöglich in ganz unerwarteter Weise. Vor allem wollte er den Namen des Mannes wissen. Er mußte Familie gehabt haben, vielleicht eine Ehefrau, die sich im Augenblick fragte, was ihm zugestoßen sein mochte. Ob irgend jemand in seiner Familie eine Ahnung hatte, wo er hingegangen war oder warum? Wahrscheinlich nicht. Evan würde die elende Pflicht zufallen, die Hinterbliebenen des Mannes nicht nur über dessen Tod zu informieren und über die furchtbare Art seines Sterbens, sondern auch darüber, wo er sich zu jener Zeit befunden hatte.
    »Da sind die Sachen, Sir.« Der Angestellte drehte sich um und ging auf eine Bank am anderen Ende des Raumes zu.
    »Haben wir alles für Sie aufbewahrt, aber ansonsten sind die Sachen noch genau in dem Zustand, in dem wir sie ihm ausgezogen haben. Gute Qualität, soviel steht fest. Aber das werden Sie selber sehen.« Er griff nach Unterwäsche und Socken, dann nach einem Hemd, das ursprünglich einmal weiß gewesen war, jetzt aber durch und durch mit Blut, Schlamm und Abwässern aus dem Rinnstein in der Gasse besudelt war. Der Geruch machte sich selbst hier bemerkbar. Jacke und Hose befanden sich in noch schlimmerem Zustand.
    Evan legte die Kleidungsstücke vor sich auf die Bank. Dann begann er, sie langsam und gründlich zu durchsuchen. Er tastete Taschen, Falten, Säume, Manschetten ab. Der Anzug war aus Wolle, nicht die beste Qualität, aber eine, die er mit Freuden selbst getragen hätte. Es war ein warmer Stoff, ziemlich locker gewebt und von nichtssagendem Braun, genau die Art Kleidung, die ein Gentleman wohl für einen Ausflug in ein durchaus nicht vornehmes Viertel der Stadt gewählt hätte – vielleicht nicht gerade eines, das so gefährlich war wie St. Giles. Für seine normalen Geschäfte trug er zweifellos etwas Besseres. Das Leinen seines Hemdes legte die Vermutung nahe, daß sowohl sein Geschmack als auch sein Portemonnaie größeren Luxus zuließen.
    All das sagte Evan, daß der Mann genau das war, wofür er ihn gehalten hatte, daß
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