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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo
Autoren: Anne Perry
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war. Andere Gründe für sein Schweigen waren seine tiefe Beschämung und Demütigung.«
    Eglantyne hob ruckartig den Kopf; ihre Augen waren geweitet, ihre Haut war aschfahl. Sie schien um Atem zu ringen. Fidelis war keinerlei Veränderung anzumerken, als habe sie das Gehörte tief innerlich nicht wirklich überrascht.
    »Vielen Dank, Miss Latterly.« Rathbone wandte sich dem Richter zu, um eine Bitte zu äußern, hielt dann aber inne. In die Züge des Richters hatten sich Entsetzen und ein so tiefes Mitleid eingegraben, daß allein der Anblick des Mannes ihn erschreckte.
    Rathbone sah die Geschworenen an und las dieselben Gefühle in ihren Augen. Nur vier der Männer weigerten sich offensichtlich, etwas Derartiges zu glauben. Frauen waren es, die vergewaltigt wurden, unmoralische Frauen, die so etwas geradezu herausforderten. Solche Dinge widerfuhren einem Mann einfach nicht. Keinem Mann! Männer waren unverletzlich … zumindest, was die Intimität ihrer Körper betraf. Das Entsetzen und die Verständnislosigkeit machten sie benommen. Sie starrten blind vor sich hin und nahmen den Raum um sich herum und die merkwürdige Stille in der Galerie kaum wahr.
    Rathbone sah Sylvestra Duff an. Sie war so bleich, daß man den Eindruck hatte, sie sei kaum mehr lebendig. Eglantyne Wade hatte den Kopf gesenkt und die Hände vors Gesicht geschlagen. Nur Fidelis Kynaston bewegte sich. Sie hielt immer noch Sylvestra umfangen und schwankte ganz leicht hin und her. Sie schien etwas zu ihr zu sagen, beugte sich dichter über sie. Ihre Miene war voller zärtlicher Zuneigung, als könne sie zumindest diese letzte Qual mit ihr zusammen tragen, einen Teil ihrer Last auf die eigenen Schultern nehmen.
    »Haben Sie sonst noch etwas hinzuzufügen, Sir Oliver?« brach der Richter das Schweigen.
    »Nein, Euer Ehren«, antwortete Rathbone. »Wenn irgend jemand Zweifel hat, werde ich medizinische Beweise beibringen lassen, aber es wäre mir bei weitem lieber, Mr. Duff weiteren Schmerz zu ersparen. Er hat eine beeidigte Aussage darüber gemacht, was sich in der Todesnacht seines Vaters in der Water Lane ereignet hat. Es wird zweifellos weitere Verhandlungen geben, bei denen seine Zeugenaussage erforderlich sein wird. Diese Dinge werden schon Martyrium genug für ihn sein, falls er bis dahin sowohl körperlich als auch geistig hinreichend genesen sein sollte. In der Zwischenzeit bin ich bereit, mich mit Miss Latterlys Wort zu begnügen.«
    Der Richter wandte sich zu Ebenezer Goode um.
    Goode erhob sich mit erster Miene. »Ich bin im Bilde, was Miss Latterlys Erfahrungen in der Krankenpflege betrifft, Euer Ehren. Wenn sie dem Gericht unter Eid bestätigt, worauf sich ihr Urteil begründet – abgesehen von Mr. Duffs Wort –, wird mir das ebenfalls genügen.«
    Der Richter sah Hester an.
    Mit einem Minimum an Worten und sehr leiser Stimme schilderte sie dem schweigenden Gericht die Schwellungen und Risse, die sie gesehen hatte, und verglich sie mit ähnlichen Verletzungen, die sie auf der Krim behandelt hatte. Sie wiederholte, was die Soldaten selbst ihr damals erzählt hatten.
    Der Richter dankte ihr und entließ sie. Als Hester an ihren Platz zurückkehrte, war sie zu benommen, um sich des Gedränges um sie herum wirklich bewußt zu sein. Sie reagierte nicht einmal sofort, als sie die Nähe eines Mannes und einen Arm um ihre Schultern spürte.
    »Sie haben richtig gehandelt«, sagte Monk sanft, während er sie mit überraschender Kraft umfing, als wolle er sie stützen.
    »Sie konnten die Wahrheit nicht verändern, wenn Sie sie verschwiegen hätten.«
    »Manche Wahrheiten bleiben besser unausgesprochen«, flüsterte sie.
    »Ich glaube das nicht, nicht im Falle von Wahrheiten wie dieser.«
    »Was ist mit Sylvestra? Wie wird sie damit fertig werden?«
    »Stück um Stück, immer einen Tag nach dem anderen und mit dem Wissen, das, was immer sie auf dieser Wahrheit aufbaut, von Dauer sein wird, weil es auf der Realität und nicht auf Lügen fußt. Sie können ihr keine Tapferkeit geben, das ist etwas, das niemand für einen anderen Menschen tun kann.« Er hielt inne, ohne sie loszulassen.
    »Aber warum?« sagte sie beinahe zu sich selbst. »Warum haben sie alles riskiert, um etwas so… so Sinnloses zu tun?« Und noch während sie sprach, erinnerte sie sich an einige Bemerkungen Wades, die jetzt eine vollkommen andere Bedeutung bekamen. Bemerkungen über die Natur, die die Rasse verfeinerte, indem sie die Untauglichen, die moralisch Unterlegenen
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