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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition)
Autoren: James Sallis
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dem Bett. Allmählich wurde ich wach, und es war dunkel. Mir fiel auf, wie sehr sich Gestern und Heute glichen, dass die Tage neuerdings nur so vorüberhuschten, unterschiedslos, größtenteils verschwommen, viel Zwielicht, das einer trüben Dämmerung wich.
    Schließlich klopfte es an die Tür, dann noch zweimal.
    »Es gibt Abendessen, wenn ihr was wollt.« Schritte, die sich entfernten.
    Wir duschten gemeinsam und schauten nach, was es gab.
    »Eintopf mit Huhn und Gemüse, Spinat mit Ei und einer Vinaigrette, Nudelsalat, gebratene Bananen. Danach frisch gemahlenen Kaffee.«
    »Diesmal übernehme ich das Geschirr«, sagte ich.
    Und machte es auch, hörte sie im Nebenzimmer miteinander plaudern. Vicky hatte mit der Einsatzleiterin für die freiwilligen Helferinnen und dem für die Schwestern zuständigen Personalchef geredet. Beide wollten ein Einstellungsgespräch mit Cherie führen.
    Ich hatte Jimmi vor Augen, wie er nackt in seinem Bett gesessen und die Grundregeln der Wirtschaft gelesen hatte, dachte daran, wie ich Vicky zum ersten Mal gesehen hatte, nur eine Unmasse roter Haare, die über mir hingen, und an das Foto, auf dem Cherie so jung gewirkt hatte und zugleich (wie Vicky gesagt hatte) so, als ob sie wüsste, dass die beste Zeit ihres Lebens bereits vorüber wäre.
    Vielleicht ist die beste Zeit unseres Lebens immer schon vorüber. Vielleicht sind Glück und Zufriedenheit nur Hirngespinste, die wir längst hinter uns gelassen haben, und wir verklären sie nur im Lauf der Zeit.
    Nebenan lachten beide laut auf, Vicky offen und geraderaus, Cherie merkwürdig kindlich, und ich dachte: Lachen, das ist es doch, die einzige Antwort auf alles. Ich stand noch lange da und lauschte, nachdem es vorbei war.

8
    Ein paar Wochen später stand ich mit Vicky am New Orleans International Airport. Es war plötzlich warm geworden, ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Wir sahen zu, wie eine kleine Privatmaschine beschleunigte und die Erde hinter sich ließ. Bevor wir aufgebrochen waren, hatten Don, Sansom und ein paar andere vorbeigeschaut, ein paar Gläser mit uns getrunken und sich verabschiedet. Jetzt waren wir an der Reihe.
    »Ich weiß nicht, was dich glücklich machen könnte, Lew«, sagte Vicky. »Aber ich hoffe, du findest es, was immer es auch sein mag.«
    »Oder gebe die Suche auf?«
    »Genau.« Sie legte ihre Hand auf meine. Wir konnten die Hitze durch das Fenster spüren. Nie würde ich ihre Augen vergessen, oder ihren Mund, der sich förmlich um die Worte schmiegte, die sie aussprach. »Du hast das nicht gewusst, aber als ich dich kennengelernt habe, hatte ich mich bereits entschlossen abzureisen, nach Hause zu gehen. Ich war mir nie ganz sicher, weshalb ich’s nicht gemacht habe, bis du ins Hotel Dieu gekommen bist und mich gesucht hast. Erst da ist mir klar geworden, dass ich genau darauf gewartet hatte.«
    »Ich war in einer schrecklichen Verfassung, als du mich kennengelernt hast, Vicky.«
    »Sind wir das nicht alle … Du weißt, wo ich bin, Lew. Du kannst jederzeit kommen, wenn du deine Meinung änderst.«
    »Und du wartest derweil.«
    »Warten, nein. Aber ich werde für dich da sein, wenn du kommst. All das hier ist für mich etwas ganz Besonderes gewesen, Lew.« Sie legte die Hand aufs Herz, schloss sie und öffnete sie dann langsam.
    Schließlich wurde ihr Flug aufgerufen. Wir sagten uns linkisch Lebewohl, umarmten einander unbeholfen, und dann entfernte sie sich durch den Tunnel, der an Bord führte.
    Ich ging an die Bar und lief einem Typ über den Weg, mit dem ich auf der Highschool gewesen war und den ich seitdem nicht mehr gesehen hatte. Vicky hatte kurz vor der Abreise das Auto verkauft. Er war jetzt Taxifahrer und bot mir eine kostenlose Heimfahrt an. Doch als wir zwei Stunden später nach etlichen Drinks rausgingen, lehnte Verne an der Straßenlaterne an der Ecke.
    »Soll’s nach Hause gehen, Soldat? Ich habe mein Auto dabei.«
    »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, Lew«, sagte sie, als sie sich mit List und Tücke auf die Stadtautobahn durchkämpfte. »Ich weiß, was gerade gelaufen ist. Dachte, du könntest jetzt ’ne Freundin gebrauchen.«
    »Immer. Aber was ist mit deinem Doktor?«
    Sie zuckte die Achseln. »Vorbei.«
    Ich musterte ihr Gesicht, als es durch die Lichter huschte wie ein Boot übers Wasser.
    »Geht’s dir gut?«
    »Bestens«, sagte sie. »Ich bin auf dem Laufenden, Lew. Ich habe mit Don Walsh und ein paar anderen geredet. Ich hab immer gewusst, wo du bist, was du
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