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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee
Autoren: Anita Shreve
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Schnee von den unteren
Zweigen zu fegen. Da, wo der Schnee hart gefroren ist, graben wir mit den
Schippen. Wir brauchen nicht allzulange, um den Grund unter dem Baum
freizulegen. Mein Vater bückt sich und schlägt ein paarmal mit der Axt zu. Der
Baum schwankt und stürzt, und wir ziehen ihn aus dem Schnee. Wir legen ihn
nieder. Es ist ein magerer Baum mit ein paar kahlen Stellen, aber er tut es.
Mein Vater nimmt das schwere Ende, ich nehme die Spitze, und so tragen wir ihn
nach Hause.
    Der Baum ist zu hoch, mein Vater muß ihn noch einmal hinaustragen
und fünfzehn Zentimeter kürzen. Als wir ihn im Ständer aufgestellt haben, trete
ich zurück und sehe, daß er schief steht. Wir versuchen eine Weile, ihn gerade
zu richten, bis mein Vater beschließt, ihn an einem Türknauf festzubinden,
damit er nicht mitten ins Zimmer stürzt. Er entwirrt die Lichterketten und
spannt sie um den Baum, während ich den Schmuck auf dem Tisch ausbreite.
    Ich bin in diesem Jahr groß genug, um bis zu den obersten Zweigen
des Baums hinaufzureichen. Ich hänge den Schmuck sehr ordentlich, bemüht, die
einzelnen Stücke in gleichem Abstand voneinander anzubringen. Mein Vater
überläßt mich meinem Werk und geht nach oben, um zu duschen. Der Baum hat dicke
bunte Lichter, wie er sie aus seiner Kindheit kennt, sagt mein Vater. Der Baum
von Jos Familie im letzten Jahr hatte ganz kleine weiße Lichter und war mit
silbernen Kugeln und roten Schleifen geschmückt. Er sah aus wie aus einer
Zeitschrift.
    Als das letzte Stück aufgehängt ist, trete ich wieder ein paar
Schritte zurück und bewundere mein Werk. Ich bewundere seine Spiegelung in den
vom Baum verdunkelten Fensterscheiben. Dann rufe ich meine Großmutter, damit
sie meine Bewunderung teilen kann. Ich setze mich in den Ledersessel meines Vaters
und überlege gerade, ob ich den Makkaroniteller anders hängen soll, um eine
kahle Stelle zu verbergen, als ich plötzlich an Charlotte denken muß. Im
Gefängnis. Am Heiligen Abend. Ich schlage die Hände vor mein Gesicht. Sie sitzt
in einer Zelle. Bestimmt wissen ihre Eltern inzwischen von dem Baby. Sie wird
vielleicht sehr lange im Gefängnis bleiben müssen.
    Ich lehne mich an das Lederpolster und starre zur Zimmerdecke. Ich
weiß, daß Charlotte immer bei mir sein wird, daß ich jeden Tag an sie denken
werde. Sie wird in Zukunft zu der kleinen Gruppe Menschen gehören, mit denen
ich häufig spreche, deren Leben ich mir täglich in der Phantasie vorstellen
muß. Vier sind es nun: meine Mutter, die immer so alt ist wie zur Zeit ihres
Todes und die mir Tips gibt, wie ich mit meinem Vater umgehen soll; Clara, die
drei Jahre alt ist und zu Weihnachten eine Stoffpuppe bekommt; Charlotte, die
mir neue Frisuren machen wird, die mit mir Kleider kaufen und meine Freundin
sein wird; und Baby Doris, die vielleicht gerade ein Fläschchen trinkt. Oder
ein Nickerchen macht.
    Ich bleibe ein paar Minuten still sitzen. Ich werde alle Geschenke
unter den Baum legen. Allzu viele sind es nicht, aber auf einigen habe ich
schon meinen Namen gesehen. Morgen werde ich meinem Vater die Fäustlinge
schenken, die ich ihm gestrickt habe, und meiner Großmutter die Perlenschnur
mit dem ziselierten Anhänger. Sie wird ganz gerührt sein und viel Aufhebens
machen, aber ich bin fast sicher, daß sie die Kette niemals tragen wird, wenn
sie erst wieder weg ist.
    Meine Großmutter bittet mich, den Tisch zu decken, der immer
noch zum Teil aus der Küche heraussteht. Ich schmücke ihn so festlich, wie ich
kann, indem ich in der Mitte ein Sortiment halb heruntergebrannter Kerzen
aufstelle. Während ich überlege, ob wir nicht etwas im Haus haben, was zu
Serviettenringen umfunktioniert werden kann, sehe ich draußen vor dem Haus
Scheinwerfer aufleuchten. Der Wagen hält an, und die Lichter gehen aus.
    Mein
Vater, der im Wohnzimmer gesessen und es genossen hat, nicht kochen zu müssen,
kommt, seine Lesebrille abnehmend, in die Küche. »Bleibt ihr hier«, sagt er zu
meiner Großmutter und mir.
    Meine Großmutter tritt an meine Seite. Wir hören, wie eine Autotür
zugeschlagen wird. Wenige Sekunden später ertönt eine Männerstimme.
    Detective Warren tritt ins Haus.
    Jetzt ist es soweit, denke ich.
    Ich mache mir Sorgen um meine Großmutter. Um das Abendessen, das sie
zubereitet hat. Um die Geschenke unter dem Baum. Wer wird hiersein, um sie
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