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Stille Tage in Clichy

Titel: Stille Tage in Clichy
Autoren: Henry Miller
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sie zu betreten, und doch wird man eines Tages unvermeidlich eine Nacht, vielleicht eine Woche oder einen Monat in einem von ihnen verbringen. Ja, man wird sich dort vielleicht so eingewöhnen, daß man eines Tages meint, das ganze Leben habe sich verändert, und was man einmal greulich, schmutzig, unwürdig fand, erscheint einem nun reizvoll, liebenswert und sogar schön. Dieser hinterhältige Zauber von Montmartre ist, glaube ich, zum größten Teil dem Sex zuzuschreiben, der hier unverblümt gehandelt wird. Sex hat nichts Romantisches, besonders wenn er kommerzialisiert wird, aber er schafft ein prickelndes, melancholisches Fluidum, das viel betörender und viel verführerischer ist als der strahlend illuminierte Broadway. Zweifellos floriert das sexuelle Leben eher im trüben Dämmerlicht: es ist im Halbdunkel zu Hause und nicht in greller Neonbeleuchtung.
    An einer Ecke der place Clichy befindet sich das Café Wepler, das lange Zeit mein Stammlokal war. Ich habe dort drinnen und draußen gesessen, zu allen Tageszeiten und bei jedem Wetter. Für mich war es ein aufgeschlagenes Buch. Die Gesichter der Kellner, der Geschäftsführer, der Kassiererinnen, der Huren, der Gäste, ja sogar der Toilettenfrauen haben sich mir eingeprägt wie die Illustrationen eines vertrauten Buches. Ich erinnere mich noch an den ersten Tag, an dem ich das Café Wepler im Jahre 1928 mit meiner Frau im Schlepptau betrat. Ich entsinne mich noch des Schocks, den es mir versetzte, als ich eine Hure sinnlos betrunken über einen kleinen Tisch auf der terrasse fallen sah und niemand herbeieilte, um ihr zu helfen. Ich war verblüfft und entsetzt über die stoische Gleichgültigkeit der Franzosen - ich bin es noch, trotz aller guten Eigenschaften, die ich seither an ihnen kennengelernt habe. «Nur keine Aufregung, ist ja bloß eine Hure... betrunken.» Ich höre noch immer diese Worte. Sogar heute noch lassen sie mich schaudern. Aber ein solches Verhalten ist sehr französisch, und wenn man sich damit nicht abfindet, wird man sich in Frankreich nicht sehr wohl fühlen.
    An solchen grauen Tagen, wenn es überall sonst kalt war, außer in den großen Cafés, freute ich mich darauf, vor dem Essen ein oder zwei Stunden im Wepler zu sitzen. Der rosige Schimmer, der sich im Café verbreitete, ging von der Gruppe Huren aus, die gewöhnlich in der Nähe des Eingangs zusammensaßen. Während sie sich nach und nach unter die Gäste mischten, kam zu der Wärme und dem rosigen Schimmer noch ein berauschender Duft. Die Mädchen schwirrten in dem gedämpften Licht wie parfümierte Glühwürmchen umher. Diejenigen, die nicht das Glück hatten, einen Kunden zu finden, schlenderten langsam auf die Straße hinaus, um gewöhnlich bald darauf zurückzukommen und wieder ihre alten Plätze einzunehmen. Andere kamen, frisch und für die abendliche Arbeit gerüstet, hereinstolziert. In der Ecke, wo sie sich gewöhnlich versammelten, ging es wie auf der Börse zu - der Sex-Markt hatte dort seine Haussen und Baissen wie jede andere Börse. Ich hatte den Eindruck, daß ein regnerischer Tag im allgemeinen ein guter Tag war. Wie man so sagt, kann man an einem Regentag nur zwei Dinge tun - und die Huren verschwendeten keine Zeit ans Kartenspiel. Am frühen Abend eines solchen regnerischen Tages entdeckte ich ein neues Gesicht im Café Wepler. Ich hatte Einkäufe gemacht und war beladen mit Büchern und Schallplatten. Ich muß damals wohl gerade eine unerwartete Geldsendung aus Amerika erhalten haben, denn trotz meiner Einkäufe hatte ich noch einige hundert Francs in der Tasche. Ich setzte mich in die Nähe der Börse, umgeben von einer Schar hungriger, lauernder Huren, denen ich nicht das geringste Interesse schenkte, denn mein Blick war auf diese berückende Schönheit gefallen, die, von den anderen abgesondert, in einer entfernten Ecke des Cafés saß. Sie schien mir eine attraktive junge Frau zu sein, die sich hier mit ihrem Liebhaber verabredet hatte und vielleicht vorzeitig gekommen war. Den Aperitif, der vor ihr stand, hatte sie kaum angerührt. Die Männer, die an ihrem Tisch vorbeigingen, sah sie mit einem offenen, festen Blick an, was jedoch nichts besagte, denn eine Französin schaut in einem solchen Fall nicht weg wie Engländerinnen oder Amerikanerinnen. Sie sah sich in aller Ruhe um, interessiert, aber ohne die Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen. Sie war zurückhaltend, nicht ohne eine gewisse Würde, durchaus selbstsicher und beherrscht. Sie wartete.
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