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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel
Autoren: Leonie Ossowski
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und begann zu heulen.
    Nagold ließ sich Zeit. »Könnt ihr euch Manfred in Sibirien vorstellen?«, fragte er dann.
    Die Jungen schüttelten den Kopf, einige kicherten.
    »Die Angst ist gefährlicher als die Russen«, fuhr Nagold fort.
    Seine Worte erschienen ihm läppisch.
    »Sie ist deshalb gefährlicher, weil sie dumm macht, und in diesen Tagen müssen wir wachsamer sein denn je.«
    »Jawohl, Herr Nagold«, klang es aus den Reihen.
    Nagold fuhr auf. Wie war das gemeint? Forschend blickte er in die Gesichter seiner Schüler.
    »Geht jetzt und macht Freistunde, wir proben am Nachmittag weiter.«

Bald nach der Ausheilung seiner Verwundung hatte Nagold wieder seinen Platz als Chorleiter und Musiklehrer im Alumnat angetreten. Als gesunder, unbelasteter Mensch war er in den Krieg gezogen. Als Krüppel war er zurückgekehrt. Den Posten des Rektorats hatte inzwischen sein früherer Kollege Jähde eingenommen. Jähde war schon in Vorkriegszeiten als strenger Verfechter des Nationalsozialismus bekannt und gefürchtet gewesen. So ließ er sich keine Gelegenheit entgehen, den Knabenchor für Parteikundgebungen und Feierstunden heranzuziehen.
    Während Nagold an der Front gekämpft hatte, verwundet wurde und ein Bein verlor, war Jähde avanciert. Jovial hatte der frisch gebackene Rektor dem einbeinigen Musiklehrer bei dessen Wiedereinstellung auf die Schulter geklopft und gesagt: »Kopf hoch, Nagold, auch wenn Sie nicht mehr für Führer und Vaterland an die Front können, hier gibt es auch Pflichten. Wir brauchen solche Leute wie Sie. Helfen Sie mir, aus diesem mit falscher Tradition beladenen Kindergesangsverein einen deutschen Jugendchor zu machen, auf den unser Führer und unsere Stadt stolz sein kann.«
    Direktor Jähde hatte Nagold die Hand hingestreckt. Aber Nagold hatte sie übersehen. Seit diesem Tag lag unausgesprochene Feindschaft zwischen den Männern.
    So war Nagold, ohne dass er es wusste, in die erste Reihe der großen Widersacher des Rektors gerückt, dessen fester Wille es war, mit der Kirchenliederei seines Musiklehrers aufzuräumen.
    Aber die letzten Wochen durchkreuzten auch die Zukunftspläne des Herrn Jähde. Man konnte den normalen Schulbetrieb nicht mehr aufrechterhalten, der größte Teil der älteren Schüler wurde zum Volkssturm eingezogen. Alle Lehrkräfte bis auf Jähde und Nagold waren an der Front. Trotzdem wurde der Chorbetrieb nicht aufgelöst. Jähde bestand sogar auf dem Einhalten des allwöchentlichen Vespersingens. Tatsächlich aber kämpfte er mit der Erhaltung des Alumnats um seine eigene Haut, denn nur als Rektor der Schule hatte er sich seine Freistellung von der Wehrmacht sichern können.

Nagold ahnte von den plötzlichen Fluchtplänen seiner Frau nichts. Schon vor Tagen hatte er diese Möglichkeit scharf zurückgewiesen, zumal es jetzt einige Kinder im Hause gab, deren Verbindung mit den Eltern durch den schnellen Vormarsch der sowjetischen Truppen abgerissen war. Das Jammern seiner Frau über Verlust von Hab und Gut und ihre klägliche Angst vor einer persönlichen Gefährdung hatten ihn zu ungewohnter Schärfe hingerissen. Es war der erste laute Wortwechsel in ihrer Ehe gewesen.
    Als Nagold jetzt das Chaos in seiner Wohnung vorfand, konnte er sich im ersten Augenblick kaum beherrschen. Er fegte einen Stapel Wäsche vom Stuhl und setzte sich.
    »Was machst du da?«
    »Ich packe, wie die anderen auch!«
    »Welche anderen?«
    Frau Nagold antwortete nicht, sie packte weiter, er sah ihr zu. Die Stille zwischen ihnen wurde unerträglich. Am liebsten wäre sie zu ihm hingelaufen und hätte ihn gebeten mitzupacken, mitzukommen, sie nicht allein zu lassen mit dieser schrecklichen Angst. Stattdessen hielt sie ihm zwei Pullover hin.
    »Willst du beide mitnehmen oder nur den Patentgestrickten?«, sagte sie und bemühte sich, ihren Worten einen selbstverständlichen Klang zu geben. »Er genügt vielleicht, zwei nehmen zu viel Platz weg. Dafür könnte ich ja deine Noten oder ...«
    Er blickte sie nur an. Ihre Stimme zitterte. Langsam ließ sie die Hände sinken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    Wortlos begann Nagold aufzuräumen. Wahllos stellte er den einen oder anderen Gegenstand auf den alten Platz. »Du packst Koffer«, sagte er leise, »eine hysterische Frau holt ihr zehnjähriges Kind aus dem Unterricht, weil sie es in den Bergwerken von Sibirien sieht. Und ich soll mit den Jungen singen.« Mitleidig sah er zu, wie sie vor sich hin weinte. Ihre Augenlider waren geschwollen und auf
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