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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel
Autoren: Leonie Ossowski
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schlichen ein paar Volksstürmer entlang. Sie trugen ein weißes Tuch.
    »Seid ihr wahnsinnig?«, brüllte Jähde.
    Ungeachtet der Schüsse sprang er über die Straße. »Es wird nicht kapituliert! Ich verbiete das! Ich habe Vollmachten!«
    »Von wem?«, fragte einer der Männer.
    »Von Kreisleiter Hoffmann! Die Stadt darf nicht übergeben werden!«
    »Von dem haben Sie eine Vollmacht? Mit der können Sie sich Ihren Arsch wischen, solange Sie noch …«
    Die Männer lachten.
    »Ihr Kreisleiter, Mann«, sagte einer und tippte sich an die Stirn, »der ist schon gestern Nacht mit Sack und Pack abgehauen. Soll einer der Letzten gewesen sein, die durchgekommen sind!«
    »Abgehauen?«, stammelte Jähde. Er konnte es nicht begreifen.
    Die Männer ließen ihn mit Nagold stehen.
    »Dort drüben«, sagte Nagold und wies über den Platz, »liegt Willi. Er ist tot und es ist Ihre Schuld!«
    Jähde antwortete nicht. Es blieb ihm nur die Möglichkeit, Nagold für sich zu gewinnen, wenn er sein Leben retten wollte.
    »Ja, lieber Nagold«, begann Jähde mit einem gefrorenen Lächeln im Gesicht. »Sie haben wohl Recht.«
    Als Nagold nichts erwiderte, fuhr er fort. »Aber dass ich zu dieser Einsicht gekommen bin, habe ich Ihrer Tatkraft zu verdanken. Ich habe mich in Ihnen geirrt. Hätten wir solche Männer wie Sie als Kreisleiter gehabt, hätte dieser Krieg anders geendet!«
    Nagold starrte Jähde an. Vor einer Stunde noch wollte ihn Jähde erschießen, forderte den Tod des jüdischen Kindes und jetzt sprach er ihm Lob und Anerkennung aus.
    Er drehte sich schweigend um. Jähde blieb neben ihm.
    »Kannten Sie diesen Juden eigentlich?«
    »Ja. Es ist ein Kind!«
    »Was, ein Kind? Und das haben Sie mir nicht gesagt?« Jähde war bestürzt.
    »Da ist mir ja ein entsetzlicher Irrtum unterlaufen! Lieber Nagold«, sagte er leise, »ich nehme doch an, Sie werden Verständnis für Ihren ehemaligen Vorgesetzten zeigen. Schließlich habe ich Sie auch nicht angezeigt.«
    Er sah Nagold vorsichtig an.
    »Und wollen wir auch aussagen«, schrie Nagold, »dass Willis Tod eine gerechte Strafe des Schicksals war? Dass dieses Kind ohne Befehl, ohne Vorbild, rein aus der Verlogenheit seines Charakters heraus einen Juden verfolgte?«
    »Aber, aber, Nagold, regen Sie sich nicht auf! Willi war ein hitziger Junge, der manches zu wichtig nahm. Es tut mir Leid, aber er war nun mal nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt.«

In der Krypta war die Angst zur Höllenqual geworden. Jeder Winkel war ausgefüllt. Dicht gedrängt saßen die Menschen nebeneinander. Von den rissigen Wänden rieselte der Mörtel. Die breiten Pfeiler, die das Gewölbe trugen, zitterten unter der Erschütterung der Detonationen. Den Altar der Mutter Gottes hatte man eng an die Wand gerückt. Auf seinen Stufen, mit den Rücken zur Heiligenstatue, saßen die vier Jungen, Ruth und Kimmich. Die Dunkelheit vermehrte die Angst und die Ungewissheit. Niemand schämte sich seiner Furcht. Gebete wurden laut, Schluchzen, Jammern, Klage und Anklage. Ungeduld wechselte mit Ergebung, Bosheit mit Güte. »Hört doch auf zu beten«, schrie eine Stimme hinter dem Altar, »für uns hat der liebe Gott heute keine Zeit!«
    Endlich wurde die Tür aufgerissen. Nagold humpelte über die Stufen herunter. Er sah Abiram, die Jungen und Kimmich. »Die Russen sind da!«, rief er.
    Kein Mensch bewegte sich. Alle saßen sie da in taubem Entsetzen, unfähig zu beurteilen, ob diese Nachricht Gutes oder Böses für sie bedeuten würde.
    Kimmich erhob sich. Er ging voran, Abiram und Ruth hinter sich, auf die offene Tür zu, hinter ihm Antek, Paule, Zick.
    »Ist jetzt Frieden?«, fragte Frau Nagold leise. Sie wagte nicht, ihrem Mann in die Augen zu sehen.
    »Ja, Frieden«, sagte er und stützte sich auf ihren Arm, während sie mit ihm der Tür zuging.

Nachwort
    1958 erschien der Roman »Stern ohne Himmel« in der DDR und in der CSSR. Ein Jahr später machte ich aus dem gleichen Stück ein Theaterstück, das in Greifswald seine Premiere hatte. In Westdeutschland hielt man das Thema nicht für verkaufsträchtig. Es gab damals in der Bundesrepublik wenige Menschen, die etwas über ihre nationalsozialistische Erziehung lesen wollten. Und es gab wohl noch weniger Leser, die sich mit der Verantwortung einer solchen Erziehung auseinander setzen wollten. Man schwieg und hoffte auf das Gras, das über alles wachsen sollte. – Vielleicht wäre es gewachsen, gäbe es keine Kinder und Enkelkinder, die das Fragen nicht lassen können,
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