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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel
Autoren: Leonie Ossowski
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will?«
    Sie schrie ihm ins Gesicht und rüttelte an seinen Rockaufschlägen.
    »Sag mal«, fragte sie plötzlich ganz leise, »hat dieser Jude schwarze Haare?«
    »Ja.«
    »Ist er klein?«
    Sie nickte, bevor er antwortete. Jetzt wusste sie es. Dieser Jude war der kleine Herr, der ihrem Mann Unglück brachte, und jetzt musste sie zu einem Herrn gehen, der beruflich … Natürlich, sie musste zu Jähde, um ihren Mann zu retten.
    »Warum willst du das wissen?«, fragte Nagold verständnislos.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich komme gleich wieder, ich muss in die Küche runter.«
    Er war froh, dass sie das Zimmer verließ.

Ein Gerücht hatte die Menschen aus dem Schlaf gerissen. Der Weg nach Westen sollte abgeschnitten sein. Die Russen hätten die Stadt umzingelt, keiner käme mehr durch. Die ersten Wagen, die früh ausgezogen waren, sollten wieder auf dem Rückweg sein.
    Frau Nagold hörte das alles nicht. Sie lief zu Jähde. Er war überhaupt nicht im Bett gewesen. Auf seinem Schreibtisch lagen mit Bleistift beschmierte Blätter, die immer wieder die Namen Dressler, Kimmich und Abiram trugen.
    »Herr Jähde«, keuchte Frau Nagold, »mein Mann hat keine Schuld! Glauben Sie mir!«
    »Reden Sie!«
    »Auf dem Dachboden steckt ein Jude! Antek und Paule haben ihn dort versteckt, mein Mann sollte ihn rausschmuggeln.«
    Jähde war schon an der Tür.
    »Also doch!«, schrie er.
    »Aber er hat es nicht getan! Er hat es nicht getan! Hören Sie denn nicht?«
    Frau Nagold wankte hinter Jähde her. »Er hat es nicht getan! Er hat es nicht getan!« Ihre Füße versagten. Sie zog sich mit den Händen am Geländer hoch. »Er hat es nicht getan! Hören Sie doch!«
    Irgendjemand löste ihre Finger von den Stäben. »Beruhigen Sie sich um Gottes willen!«
    Sie drückte die fremden Hände. »Er hat es wirklich nicht getan«, murmelte sie und begriff erst jetzt, dass nicht Jähde neben ihr stand, sondern ein Flüchtling.
    Im Vorbeirennen stieß Jähde die Tür zum Schlafraum der Jungen auf. Willi rollte unsanft über den Erdboden.
    »Komm sofort raus, wenn dir dein Leben lieb ist!«
    Willi taumelte aus seinem Schlaf. Die Betten der Jungen waren leer, ihre Sachen weg.
    Als Jähde die oberste Treppe erreicht hatte, kam ihm Nagold entgegen.
    »Holen Sie die Bande herunter!«, schrie Jähde und fuchtelte mit seiner Pistole.
    Nagold hinkte die letzten Stufen zum Dachboden hinauf. Jähdes Flüche folgten ihm. Er war froh, als ihn die staubige Leere des Dachstuhls aufnahm.
    »Antek!«
    Nagold lief zum anderen Ende des Dachbodens. »Antek, Paule!«
    Er kletterte durch das Gebälk. Er rief und schrie. Er flehte, die Jungen möchten aus ihren Verstecken kommen, bis er begriff, dass er hier allein herumkletterte.
    Nagold hielt sich an einem Balken.
    »Sie sind fort«, flüsterte er. Die Jungen hatten die Gefahr auf sich genommen, einen Juden zu retten. Nagold fühlte Ekel vor sich selbst. Er war nicht nur ein Krüppel – die Balken tanzten vor seinen Augen. Er fiel längs, seine Hände griffen ins Leere. Neben ihm brach das Dachfenster.
    Der Beschuss hatte begonnen. Als Erstes war das Benzinlager am kleinen Fabrikgelände getroffen worden. Nagold riss sich hoch. Die Jungen mussten jetzt sinnlos vor Angst in der Stadt umherirren. Er musste sie in einen Keller bringen.
    Willi sah, wie Nagold Jähde zur Seite stieß und merkwürdig springend die Treppe herunterkam.
    »Sie sind fort!« Nagold stieß seine Frau zur Seite. »Mach, dass du in die Krypta kommst.«
    Er schüttelte sie ab.
    »Ich will nicht!« Sie hängte sich an ihn. »Lieber will ich mit dir sterben!«
    Sie krampfte sich in seinen Kleidern fest.
    Mit Gewalt löste er ihre Hände. »Bringen Sie meine Frau in den Stadtbunker«, sagte er zu einer jungen Frau und war im Gewühl verschwunden.
    Willi stand Jähde allein gegenüber. Die Sirenen heulten und die Glocken dröhnten.
    »Noch ist nichts verloren!«, schrie Willi in Jähdes bleiches Gesicht. »Ich bringe Ihnen den Juden her! Ich verspreche es Ihnen!«
    Jähde hörte nicht. Er stürzte ans Fenster und sah, wie sich der Marktplatz mit Menschen füllte, die der Kirche zustrebten, um in der Krypta Schutz zu finden.
    Am Stadtrand peitschten die ersten Maschinengewehrschüsse. Jähde wusste, was das bedeutete. Der Russe stand vor den Toren der Stadt.
    Jähdes Hand tastete nach seiner Vollmacht. Der Jude war entkommen. Was sollte er dem Kreisleiter melden? Vielleicht, dass der Jude unter dem Dach des Alumnates mit seinen Schülern das
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