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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel
Autoren: Leonie Ossowski
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ihren breiten Backenknochen hatten sich rote Flecke abgezeichnet.
    Sie gab die Hoffnung nicht auf, dass auch ihn plötzlich die nackte Angst packen könnte und er an ihre Seite getrieben würde.
    »Willst du hier bleiben, wenn die Russen kommen? Willst du zusehen, wie sie uns alles wegnehmen? Wie sie Kinder schlagen und …«, ihre Stimme sank zu einem Flüstern, »Frauen vergewaltigen? – Vielleicht mich?«
    Nagold hieb mit der Faust auf den Tisch.
    »Meinst du, wenn ich mit meinem Holzbein und einem Koffer in der Hand losrenne, holen sie uns nicht ein?«
    Die Vorstellung, mit einer Prothese und zwei Koffern vor russischen Panzern herzugaloppieren, erheiterte ihn. Er begann zu lachen und lachte plötzlich lauthals, bis er das Entsetzen in ihren Augen las.
    »Du lachst?«
    »Ja«, sagte er gereizt, »manchmal lacht man eben, auch wenn es nicht lustig ist.«
    Sie wusste nichts zu erwidern, sie fühlte sich enttäuscht. Hatte sie nicht an ihn wie an sich selbst gedacht? War denn der Wunsch nach Sicherheit so widersinnig?
    Es schien, als wenn er ihre Gedanken geahnt hätte.
    »Und wie ist es mit den Jungen? An sie denkst du nicht? Schließlich hat man sie uns anvertraut. Es ist eine Verantwortung, die wir beide übernommen haben. Du auch!«
    Er wartete keine Antwort ab. Er kam auf sie zu, hob ihr Kinn. »Hör auf mit deinem Packen.«
    Sie nickte gehorsam.
    »Ja, natürlich, die Jungen«, murmelte sie und blickte zu ihm hoch. Mechanisch strich er ihr einige Male über das Haar. Es tat ihr gut und sie versuchte ein Lächeln. »Wir sind alle ein bisschen durcheinander«, sagte er und war erleichtert, dass sie nichts von seiner Einsamkeit spürte.

Es war zur Tagesordnung geworden, dass Flüchtlinge an den Mahlzeiten teilnahmen. In allen Häusern wurde es so gehandhabt, denn die Volksküchen reichten für die große Anzahl der Vorbeiziehenden nicht mehr aus.
    Direktor Jähde war darauf bedacht, in seinem Alumnat so viel Fremde wie möglich zu beköstigen. Er glaubte, seiner Umwelt ein gutes Beispiel geben zu müssen. Gewichtig saß er am oberen Tischende zwischen seinen Schülern und dem Ehepaar Nagold. Seine flinken Augen betrachteten die Fremden voller Misstrauen. Er mochte dieses schweigende, hungrige Löffeln nicht. Es hatte in seiner Selbstverständlichkeit etwas Vorwurfvolles.
    Meist hielt er die Stille nicht lange aus. Er fragte nach den deutschen Truppen und bekam stattdessen vom Vormarsch der Russen zu hören. Das war für ihn jedes Mal der Anlass, die zuversichtlichen Nachrichten aus dem Wehrmachtsbericht zu wiederholen. Die Fremden nickten mit den Köpfen, manch einer verstieg sich in eine vorlaute Antwort. Die Jungen nahmen an diesen Unterhaltungen wenig teil, ja, sie hörten oft nicht einmal zu. Die gewohnte Erziehung und Geborgenheit im Bereich der Erwachsenen, die mit Gehorsam zu bezahlen war, schien ihnen in den letzten Tagen immer fragwürdiger. So hatten sie ihre eigenen Gedanken und Pläne.
    Der größte von ihnen hieß Antek. Trotz seiner sechzehn Jahre hatte Jähde ihn vom Volkssturm zurückstellen lassen, denn Anteks Stimme war im Chor nicht zu ersetzen. Als die Klassenkameraden stolz in den Krieg zogen, um Vaterland, Frauen und Kinder zu schützen, glaubte Antek, die Schmach nicht zu verwinden, dass sein Beitrag zum Endsieg Gesang bleiben sollte. Er war zum Direktor gegangen, er hatte Nagold als alten Soldaten flehentlich um Verständnis gebeten und schließlich bei seinem Hitlerjugendführer Hilfe verlangt. Aber alle seine Bemühungen blieben erfolglos. Direktor Jähde hatte ihn kurz abgewiesen. Die patriotischen Gefühle des Sechzehnjährigen hatten ihn wenig beeindruckt. Dagegen hatte Lehrer Nagold für seinen Schüler mehr Zeit. Er war mit ihm in seine Wohnung gegangen, hatte sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt und Antek erzählen lassen.
    Antek hielt Nagold die Pflichten der nationalsozialistischen Jugend entgegen. Und die waren nicht singen, sondern kämpfen, um den totalen Krieg zum Endsieg zu bringen, auch wenn es das Leben koste. Das geduldige Zuhören seines Lehrers hatte Antek froh gemacht, er glaubte sich am Ziel.
    »Sagen Sie selbst, Herr Nagold, ist es nicht wichtiger, wenn ein Junge von sechzehneinhalb Jahren an die Front geht, statt in der Kirche zu singen?«
    Nagold war aufgestanden und sein Holzbein schien Antek doppelt laut über die Dielen zu stampfen.
    »Wenn es irgendeinen Zweck hätte, Antek, wäre ich auch deiner Ansicht, dass es besser ist, zu kämpfen, als Kantaten zu
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