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Sterbelaeuten

Sterbelaeuten

Titel: Sterbelaeuten
Autoren: Endemann
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Selbstvertrauen beschädigt. Unbeschwertheit war eine langsam wachsende Pflanze.
    „Und wenn sie aus dem Baum der Erkenntnis geschnitzt sind“, hörte er seine Frau von draußen, „ich will sie nicht im Chorraum haben!“
    Elisabeths Stimme war laut und klang wütend. Henry vernahm auch etwas Panik in ihrer Stimme, die ihr Gesprächspartner aber wahrscheinlich nicht als solche erkennen würde. Mit wem stritt sie nur? Henry stand im Talar in der Tür, Predigt und Gesangbuch in der Hand. Er war auf dem Weg in die Kirche. Vorsichtig lugte er aus der Haustür nach draußen, von wo er Elisabeth gehört hatte. Sie stand mit Thomas auf dem Pfarrhof.
    „Jetzt sei doch vernünftig, Elisabeth“, hörte er Thomas sagen.
    Oh, gar nicht gut, dachte Henry. Da geht sie erst recht in die Luft, wenn sie sich bevormundet fühlt.
    „Der Baum, den der Tann-Fitz uns gespendet hat, ist riesig. Da passen die Krippenfiguren nicht daneben. Sie müssen auf die linke Seite vom Altar.“
    „Und wo soll deiner Meinung nach mein Krippenspiel stattfinden? Hinter dem Altar?“
    „Ihr könnt vor dem Altar sein“, sagte Thomas. „Da sieht man euch eh am besten.“
    „Thomas, wir sind keine One-Man-Show! Wir brauchen den ganzen Platz rechts, links und vor dem Altar.“
    Henry sah auf die Uhr. Fünf vor zehn. Thomas müsste längst die Glocken läuten.
    „Ich hab es dir doch erklärt. Die Krippenfiguren müssen links stehen.“
    „Ich pfeife auf deine Krippenfiguren! Ich habe Kinder aus Fleisch und Blut, die ein Stück aufführen, und Eltern, die das sehen wollen und nicht ein paar Holzpuppen.“
    „Elisabeth, wie oft noch: handgeschnitzte Zedernholzfiguren aus Bethlehem …“
    Henry räusperte sich und trat aus der Tür, die er dann geräuschvoll ins Schloss fallen ließ. Thomas und Elisabeth standen sich in einer Haltung gegenüber, die Henry an kämpfende Vogelstrauße erinnerte, die er vor Jahren im Opelzoo gesehen hatte.
    „Ja, dann wollen wir mal“, sagte er, die Vogelstrauße breit anlächelnd und wies mit dem Kopf zur Kirche. Kirchenvorsteher Hirzig stand vor dem Hoftor und ruderte mit den Armen. Er unterbrach das Rudern und tippte mit dem Zeigefinger, nein mit dem ganzen Arm, auf seine Armbanduhr. Dann ruderte er wieder. Henry nickte ihm zu. Elisabeth und Thomas warfen sich einen letzten bitteren Blick zu und setzten sich in Bewegung. Henry schritt hinter ihnen her. Das würde ja ein besinnlicher Adventsgottesdienst werden.
    Während Henry im Fürbittgebet für die Verstorbenen, deren Angehörige und die ganze schwierige Welt betete, wartete Thomas darauf, das Vater-Unser-Läuten einzuschalten. Ihm war nicht zum Beten zumute. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich in frommen Gebeten zu ergehen, solange er sauer auf Elisabeth war.
    „Und wenn ihr beten wollt und ihr habt einem anderen etwas vorzuwerfen, dann vergebt ihm, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergibt“, hatte Jesus gelehrt. Es war nur so, dass Thomas überhaupt nicht einsah, Elisabeth ihre Engstirnigkeit zu vergeben. Sie dachte, dass immer alles nach ihrem Kopf gehen müsste. Und wenn nicht, lief sie zu Henry und bearbeitete ihn so lange, bis sie ihren Willen bekam. Aber diesmal würde Thomas nicht klein beigeben. Außerdem konnte man nur jemandem vergeben, der um Vergebung bat, und danach hatte Elisabeth weiß Gott nicht ausgesehen. Henry räusperte sich ins Mikrophon. Thomas schreckte auf und drückte den Knopf des elektrischen Läutwerks. Die Lautsprecher fingen an zu knacken, bis sie von den Glocken übertönt wurden.
    Elisabeth fühlte sich niedergedrückt. Sie hätte nicht sagen sollen, dass sie auf die Krippenfiguren pfiff, die Thomas so am Herzen lagen. Das war ihr rausgerutscht. Sie verstand, dass ihn das gekränkt hatte. Aber er musste doch einsehen, dass diese blöde Krippe völlig zweitrangig war im Vergleich zu ihrem Krippenspiel. Der Krippenspielgottesdienst war für viele evangelische Kinder in Sulzbach der einzige Gottesdienst im Jahr, den sie überhaupt besuchten. Das Krippenspiel brachte ihnen die Weihnachtsgeschichte nahe und ließ sie die Geschenke wenigstens für eine Stunde an Heiligabend vergessen.
    Wenn man sich die Zahl der Kirchenaustritte und die Altersstruktur der Gottesdienstbesucher ansieht, müssten wir für jedes Kind, das den Gottesdienst besuchen will, einen roten Teppich ausrollen, dachte Elisabeth. Kinder waren wichtiger als Holzfiguren. Auch wenn sie aus balsamiertem Zedernholz waren.
    –
    Beim
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