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Steile Welt (German Edition)

Steile Welt (German Edition)

Titel: Steile Welt (German Edition)
Autoren: Stef Stauffer
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Badezimmer kannte man nicht. Kein fliessendes Wasser, kein Strom und Heizen und Kochen mit Holz. Wir kannten nichts anderes, und darum fehlte uns nichts an Annehmlichkeiten. Auf dem Herd stand immer ein Topf mit Wasser. Wenn wir um vier von der Schule kamen, gab es einen Apfel. Den tauchten wir so lange ins heisse Wasser, bis er weich war. Das war unser Zvieri. Danach konnten wir spielen. Verstecken spielten wir, und wir kletterten auf die Bäume und die Felsen. Auch auf die Hausdächer. Angst hatte sie nie um uns, die Mutter. Sie liess uns machen, bis spät am Abend. Ich hatte eine schöne Kindheit.
    Wir hatten Tiere. Ziegen und Hühner. Ich hatte ein eigenes. Einmal hörte ich den Vater sagen, heute nehmen wir ihr Huhn. Es ging um das Schlachten, das wusste ich genau. Da bin ich in den Hühnerstall gerannt, habe mein Huhn unter den Arm genommen und habe mich versteckt. Da musste das Huhn meines Bruders dran glauben. Oh, hat der geweint. Zwei Tage später stürzte ein Baum um, und mein Huhn wurde erschlagen. Das war dann wohl die Strafe.
    Am Abend musste ich jeweils ins untere Dorf laufen, um für den Vater Zigaretten zu holen. Da war ein Junge, der alle Mädchen küssen wollte. Auch mich küsste er auf die Wange und sagte mir, nun würde ich ein Kind bekommen. Ich war elf. Wie hatte ich Kummer, einen ganzen Monat lang. Immer weinte ich auf dem Weg ins Dorf hinunter und versteckte mich, wenn mir jemand entgegenkam. Einmal erwischte mein Vater mich, wie ich mit ganz roten Augen daherkam. Hast du geweint? Du bist seit langem schon so traurig. Ich erzählte beschämt von dem Kuss und dass ich jetzt ein Kind bekommen würde. Vom Küssen gibt es doch gar keine Kinder. Mädchen, warum hast du das nicht früher erzählt, fragte er, und natürlich musste er dabei lachen. Aber er versuchte, das vor mir zu verstecken. Das war das einzige, was es je von den Eltern an Aufklärung gab. Über diese Dinge wurde nicht geredet. Als es anfing zu bluten, war das dann einfach so. Und als es jeden Monat wiederkam, wusste man sich mit der Zeit zu helfen. Zum Glück gab es ja auch noch Freundinnen im gleichen Alter.
    Wir waren über zwanzig Kinder hier im Dorf. Mit den Kindern aus dem Nachbardorf hatten wir ständig Streit. Das waren die anderen. Mit den anderen wollte man nichts zu tun haben. Hatte man aber. Täglich auf dem Schulweg. Da traf man sich halt und musste zusammen den Weg gehen, ob man nun wollte oder nicht. Wir trugen richtige Kämpfe aus, mit Steinen und so. Darum dauerte es manchmal etwas länger, bis wir heimkamen. Einmal hatte ich im Winter eine Schuhsohle verloren und musste barfuss heimlaufen. Da wurde der Vater wütend, wie ich so durchfroren nach Hause kam. Vielleicht auch, weil der Schuh nicht mehr zu gebrauchen war. Ich hatte ja nur dieses eine Paar. Acht Monate dauerte die Schule, und jeden Tag machten wir den Schulweg zu Fuss. Bei Regen oder Schnee über eine halbe Stunde der Strasse entlang. Dann kamen der Sommer und die Ferien. Die ganzen Ferien über liefen wir ohne Schuhe herum. Immer barfuss über Stock und Stein, bei Sonne oder Regen. Bevor die Schule wieder anfing, wurde jedes von uns Kindern der Reihe nach gebadet. In einen grossen Bottich gesetzt und mit der Reisbürste abgeschrubbt, bis die Haut ganz rot und das Wasser schwarz war. Für die Schule musste man wieder sauber sein.
    Wir waren fünfundvierzig Kinder in der Klasse. Von der ersten bis zur fünften, der Scuola Elementare. Das war nicht gerade einfach für die Lehrerin. Man lernte dort aber vor allem so, dass die Älteren den Kleineren Lesen und Schreiben beibrachten. So arrangierte man sich. In der Maggiore waren noch einmal über vierzig Schüler. Dort lernte man dann besser.
    Es gab in der Schule Mittagessen. Eine Tasse Kakao, ein Stück Brot und ein Stück Käse. Um zehn machte der Lehrer den Ofen an und kochte dann den Kakao. Jeden Tag. Erst später, da war ich schon nicht mehr im Tal, hat eine Frau gekocht für die Kinder. Den Kakao vertrug ich nicht. Ich bekam eine regelrechte Vergiftung und lag sogar deswegen im Spital. Sie meinten eine Zeitlang, ich müsste sterben.»
    Erst viel später wird Diabetes diagnostiziert. Kurz darauf der Krebs. Beides wird mit Medikamenten unter Kontrolle gehalten, seit Jahren schon. Tabletten, die ermüden und vergesslich machen. Und die Perücke, die macht warm. Der Alltag ist beschwerlich, mit jedem Jahr ein wenig mehr. Vergangen die Zeit, als die Gesundheit selbstverständlich war. Nicht vergangen aber
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