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STASIRATTE

STASIRATTE

Titel: STASIRATTE
Autoren: Jana Döhring
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fallen lasse.
    Eine Schulklasse wird wohl nicht mehr kommen, stelle ich erleichtert fest. Denn die wären wohl pünktlich gewesen. Bleiben noch die Freunde oder Bekannten des Beklagten under selbst. Oder kommt er vielleicht gar nicht selbst, nur sein Anwalt? Ich frage Mike nach dieser Möglichkeit, doch er hält sie für unwahrscheinlich. Also gut, langsam beruhige ich mich.
    Der „Beklagte“, denke ich, wie sich das anhört im Amtsdeutsch. Eigentlich kenne ich nur die Redewendung, dass ich mich über etwas beklage. Aber jemanden be klagen? Klingt seltsam. Vielleicht einen Verlust beklagen, das ginge noch. Nun beklage ich also jemanden, und zwar Gerry, meinen alten Freund und Kollegen.
    Meine Gedanken wandern in die Vergangenheit zu ihm, den ich vor fünfzehn Jahren zum letzten Mal gesehen hatte.
    * * *
    Sommersprossig, unbeschwert und fröhlich: Gerry war kein Typ für trübe Tage. Wir mochten uns vom ersten gemeinsamen Arbeitstag an. Später lernte ich auch seine Freundin Sonja kennen, eine aparte Blonde mit einem aufmerksamen Blick aus graublauen Augen, deren Lider auch ohne jedes Make-up seiden schimmerten. Menschen „mit Herzensbildung“ hätte meine Großmutter väterlicherseits die beiden genannt. Wäre es nötig gewesen, hätte man mit ihnen zumindest Ponys stehlen können.
    Ein Jahr vor der Wende wurden wir fast zeitgleich Eltern. Sonja und Gerry bekamen eine Tochter und ich einen Sohn. Da meine Beziehung zu dessen Vater Paul den Zenit aber schon lange überschritten hatte, nahm ich bald den Status einer Alleinerziehenden an. In dieser Zeit wurde Gerrys Familie für mich wie ein Hafen, in den ich sowohl bei Sturm wie auch bei Sonnenschein einlaufen konnte. Vielleicht waren die beiden damals sogar die einzigen Freunde, die diese Bezeichnung verdienten. Ich konnte buchstäblich in Nacht und Nebel bei ihnen auftauchen und fand die Nähe zu Menschen, diewirklich besorgt um mich waren, die echt zuhörten und nach Lösungen für meine Probleme suchten.
    Ich erinnere mich gern und traurig zugleich an die vielen Stunden und Tage, die wir miteinander verbrachten. Unseren Campingurlaub am Balaton, der genau genommen ein Desaster war; tausend Stunden in seiner einfallsreich gestalteten Wohnung; Grillen auf dem Balkon; unsere gemeinsame Entdeckung der Westberliner Warenflut nach der Wende.
    Wie oft wir wohl im kleinen Schlafzimmer der beiden zu dritt auf dem runden Bett gesessen hatten, immer darauf bedacht, nur keine Rotweinflecken oder Zigarettenasche auf der Matratze zu hinterlassen. Das Bett füllte den Raum nahezu aus und gab unseren Gesprächen Vertrautheit und unkomplizierte Nähe. Wir waren eine Einheit, die scheinbar niemand auseinanderbringen könnte ... wenn nicht wir selbst.
    Gerry hatte zudem die wunderbare Begabung, ohne großen Aufwand in kurzer Zeit ein Stimmungstief in ein Hoch zu verwandeln. Es machte ganz einfach Spaß, zusammen zu sein. Wir hatten denselben Humor und die gleiche unkomplizierte Sicht auf die staatstragenden und alltäglichen Dinge.
    Auch an unserem Arbeitsplatz, einer Nobelherberge in Berlins Mitte, die dem klammen Staat heiß begehrte Devisen verschaffen sollte, waren wir ein großartiges Team.
    Doch nach dem Mauerfall vor zwanzig Jahren, als unser Leben so anders wurde, suchte ich nach neuen Wegen und zog mich von dieser Freundschaft immer mehr zurück. Mit einer neuen Liebe und einem neuen Job versuchte ich, alle Brücken hinter mir abzubrechen. Mein altes Leben wollte ich nicht mehr und möglichst an nichts Negatives darin erinnert werden. Und das gelang mir zunächst auch. Ich baute einen neuen Freundeskreis auf, schulte um für einen neuen Job, bezog eine neue Wohnung.
    Die Vergangenheit hatte ich vor die Tür gesetzt.
    Diese Zeit mit ihren Abgründen und Fehlentscheidungen sollte nicht mehr zu mir gehören. Ich wollte jetzt nur nach vorne sehen und meinen Weg gehen, ohne auf Bruchstücke von Erinnerungen zu treten, über die ich stolpern könnte. Der Rucksack, der nun mal an mir hing, blieb unausgepackt, unsortiert. Sein Inhalt sollte mich nicht weiter beschäftigen.
    Der Kontakt zu Gerry, den ich langsam hatte einschlafen lassen, wurde auch von seiner Seite nicht geweckt. Ich war nicht sicher, warum. Mein Rückzug jedenfalls wurde hingenommen.
    Bis zu jenem Tag im August vor drei Jahren, als ich einen Brief bekam, der mich schockierte.
    * * *
    Es war nicht der Schreck, der einen durchfährt, wenn man jemandem die Vorfahrt genommen und noch mal Glück gehabt hat. Oder wenn
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