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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift
Autoren: Dorothy L. Sayers
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Heldentum an den Tag gelegt und den Umgang mit Philip Boyes abgebrochen hätte.
    Andererseits dürfen Sie diesem Fehltritt aber auch kein falsches Gewicht beimessen. Von einem unmoralischen Lebenswandel bis zum Mord ist immer noch ein weiter Weg. Sie mögen denken, daß der erste Schritt auf dem Pfade der Untugend stets den nächsten leichter macht, aber sie dürfen diesen Gesichtspunkt auch nicht zu schwer bewerten. Sie sollen ihn zwar mit berücksichtigen, sich aber nicht zu sehr davon beeinflussen lassen.«
    Der Richter machte eine kurze Pause, und Freddy Arbuthnot stieß Lord Peter Wimsey, der in Schwermut versunken schien, seinen Ellbogen in die Rippen.
    »Das will ich auch hoffen. Himmel, wenn jedes kleine Abenteuer gleich mit Mord und Totschlag endete, müßte man ja die eine Hälfte der Menschheit dafür aufhängen, daß sie die andere abgemurkst hat.«
    »Und zu welcher Hälfte würdest du gehören?« fragte Seine Lordschaft, indem er ihn kurz aus kalten Augen ansah und seinen Blick gleich wieder der Anklagebank zuwandte.
    »Zu den Opfern«, sagte der Ehrenwerte Freddy, »zu den Opfern. Als Leiche in der Bibliothek.«
    »Philip Boyes und die Angeklagte lebten also in dieser Weise zusammen«, fuhr der Richter fort, »fast ein Jahr lang. Einige Freunde haben bezeugt, daß sie offenbar in größter gegenseitiger Zuneigung dahinlebten. Miss Price hat hier gesagt, daß Harriet Vane, obwohl sie ihre unglückliche Situation anscheinend sehr schmerzlich verspürte – sie sonderte sich von ihrer Familie ab und mied es, in Gesellschaft zu gehen, wo ihr ungesetzlicher Status Anstoß erregen könnte und so weiter – dennoch ihrem Geliebten sehr ergeben war und sich stets stolz und glücklich nannte, seine Gefährtin zu sein.
    Trotzdem kam es im Februar 1929 zum Streit, und das Paar trennte sich. Daß es Streit gegeben hat, wird nicht bestritten. Mr. und Mrs. Dyer, die eine Wohnung unmittelbar über der von Philip Boyes haben, geben an, daß sie laute, zornige Stimmen gehört hätten. Der Mann habe geflucht und die Frau geweint, und am Tag darauf habe Harriet Vane ihre Sachen gepackt und das Haus für immer verlassen. Das Merkwürdige an diesem Fall, was Sie besonders beachten sollten, ist der Grund, der für diesen Streit angegeben wird. Hierzu haben wir allerdings nur die Aussage der Angeklagten selbst. Laut Miss Marriott, bei der Harriet Vane nach der Trennung Zuflucht nahm, hat die Angeklagte sich beharrlich geweigert, zu diesem Thema etwas zu sagen; sie äußerte nur, daß sie von Boyes schmerzlich getäuscht worden sei und nie wieder seinen Namen hören wolle.
    Nun könnte man daraus schließen, Boyes habe der Angeklagten Anlaß zum Groll gegen ihn gegeben, etwa durch Untreue oder Lieblosigkeit, oder einfach durch die fortgesetzte Weigerung, die Situation vor den Augen der Welt in Ordnung zu bringen. Aber das streitet die Angeklagte entschieden ab. Nach ihrer Aussage – und in diesem Punkt werden ihre Worte durch einen Brief bestätigt, den Philip Boyes an seinen Vater schrieb – hat Boyes ihr zu guter Letzt doch noch die ordnungsgemäße Heirat angeboten, und ebendies soll der Grund für den Streit gewesen sein. Sie mögen diese Behauptung erstaunlich finden, aber die Angeklagte selbst hat sie hier unter Eid aufgestellt.
    Sie können nun natürlich glauben, dieser Heiratsantrag entziehe jeglicher Annahme den Boden, die Angeklagte habe einen Groll gegen Boyes gehegt. Jeder würde doch sagen, sie könne unter diesen Umständen gar keinen Grund gehabt haben, ihn ermorden zu wollen – im Gegenteil! Es bleibt aber die Tatsache des Streites sowie die Aussage der Angeklagten selbst, daß dieser ehrenhafte, wenn auch verspätete Antrag ihr unwillkommen war. Sie sagt nicht – wie sie sehr plausibel hätte sagen können, und wie ihr Verteidiger es sehr wortgewandt und eindrucksvoll an ihrer Stelle gesagt hat –, daß der Heiratsantrag die Vermutung widerlege, sie habe etwas gegen Philip Boyes gehabt. Das sagt Sir Impey Biggs, die Angeklagte aber sagt es nicht. Sie sagt vielmehr – und Sie müssen versuchen, sich an ihre Stelle zu denken und ihren Standpunkt zu verstehen, wenn Sie das können – sie sagt, sie sei sehr böse auf Boyes gewesen, weil er sie dadurch, daß er sie zuerst gegen ihren Willen überredet habe, seine Verhaltensgrundsätze zu übernehmen, dann aber von diesen Grundsätzen selbst abgewichen sei, » zum Narren gehalten« habe, wie sie es nennt.
    Die Frage, die sich Ihnen stellt, ist folgende:
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