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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Autoren: Christoph Fromm
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zu, dass er ihr vertraue, und sie flüsterte zurück, das sei gut so. Aber das Misstrauen der anderen hatte sich zwischen sie geschoben wie eine unsichtbare Wand. Sie schwiegen und rauchten die restlichen Zigaretten. Die Pause und der Blick auf das tosende Schneefeld versetzten alle bis auf Fritz wieder in eine Art Trance.
    Die Stimmungen auf ihren Gesichtern wechselten wie das Licht eines Herbsttages. Wieder ein mal drohten ihre Gedanken davonzuwehen.
    Sie mussten los. Hans stellte fest, dass er seit geraumer Zeit die Hand der Russin hielt. Sie nahm sie weg. Alles, was geschehen war, schien ausgelöscht. Er konnte sich nur noch daran erinnern wie an eine Geschichte, die einem vor langer Zeit erzählt worden ist. Furchtsam und beinahe feindselig starrten sie aneinander vorbei, als würden sie sich dafür hassen, einander nahegekommen zu sein.
    Er bot ihr an, die Adressen zu tauschen, für nach dem Krieg. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatten auch nichts zum Schreiben.
    Sie versprachen einander, sich gegenseitig zu erschießen, falls sie verwundet würden. Nur Fritz bestand darauf durchzukommen. Sein Trotz wirkte hilflos und einsam.
    Wir haben uns überlebt, dachte Gross, schon lange.
    Der Gedanke versank im Heulen des Sturms so wie alles andere. Es gab nur Kälte und Schnee. Und einen Weg, so irrwitzig weit, dass es sinnlos war, sich darüber Gedanken zu machen. Endlich waren die Zigaretten zu Ende geraucht, und sie gingen los. Fritz und Gross ließen die Russin und Hans vorausgehen, bis sich das Seil straffte. Dann folgten sie ihnen. Sie fragte Hans, ob er nicht lieber bei seinen Kameraden bleiben wolle. Er schüttelte den Kopf. Sie blieb stehen und plötzlich dachte er, dass sie ihn wieder verraten würde, und er stellte fest, dass es ihm gleichgültig war. Er ertappte sich sogar dabei, eine gewisse Leichtigkeit zu empfinden, weil er endlich wusste, wie alles zu Ende gehen würde. Ein mechanisches, starres Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
    Die Wucht des Sturms trieb ihn in eine letzte Umarmung mit ihr. Sich vorwärts tastend, klammerten sie sich aneinander, um nicht umgerissen zu werden.
    Auch Gross und Fritz hielten sich gegenseitig. So taumelten sie, verbunden durch das Seil, über das Eis der Wolga.
    Der Sturm und der Schneefall waren so heftig, dass Gross und Fritz nach wenigen Metern den Sichtkontakt zu den beiden anderen verloren. Plötzlich blieb Gross stehen, zog an der lockeren Schnur und hatte kurz darauf das Ende in der Hand.
    Er lachte verächtlich, als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet. Dann riss er sich die Stoffmaske vom Gesicht. Der Sturm peitschte Flocken in seinen offenen Mund. Er schrie nur noch, so laut er konnte, und trotzdem war seine Stimme im Sturm kaum zu hören.
    Er schleuderte seinen Helm zu B oden, stieß Fritz, der ihn festzuhalten versuchte, heftig weg und zerrte sich die verdammte, verhasste Uniform vom Leib, weiter, immer weiter, bis er glaubte, er würde sich das verfaulte Fleisch von den Knochen reißen. Dann hielt er inne. Sein Blick richtete sich auf die Silhouetten der Ruinenstadt. Langsam, halbnackt, mit hängenden Armen ging er zurück.
    Fritz kniete im Schnee und sta rrte ihm nach wie einer Erscheinung, dann hatte der Sturm Gross verschluckt. Hilflos brüllte Fritz in den Schnee, der wie ein riesiger Vorhang vor ihm wogte.
    Plötzlich wurde er von einem hellen Licht durchtrennt, und er sah Gross wieder. Sein Körper, klein und bizarr, wurde von der Explosion einer Mine in die Luft gehoben und mit verrenkten Gliedern in den Schnee geschleudert. Im Schein der Explosion sah Fritz verschwommen die Russin, die allein zum Stalingrad-Ufer zurücklief. Sie hatte die Mütze verloren, ihr Haar stand weiß und starr im Sturm. Sie sah aus wie eine alte Frau.
    Er wollte schießen und fragte sich zugleich, wozu. Sein Kopf war leer, sein Mund trocken. Alles immer das Gleiche, dachte er. Ein leeres Grinsen schnitt in sein Gesicht. Seine Hände bewegten sich. Beinahe langweilte er sich.
    Er schoss, und sie brach zusammen.
     
    Hans lag im Schnee, nur wenige Meter von Fritz entfernt, und sah, wie die Kugeln Tatjanas schmalen Körper gegen den Wind nach vorn warfen, ehe er wieder aufgerichtet und zu Boden geweht wurde.
    Irgendetwas in ihm wollte, dass er weinte, doch er spürte die Tränen nicht. Auf allen vieren kroch er zu ihr.
    Sie hatte ihn nicht verletzt. Sie hätte es tun können, mit dem Messer, mit dem sie unbemerkt das Seil durchgeschnitten hatte, aber sie hatte es nicht
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