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Stadtfeind Nr.1

Stadtfeind Nr.1

Titel: Stadtfeind Nr.1
Autoren: Jonathan Tropper
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und mir die Tränen ungebeten in die Augen treten. Ich hole einmal tief Luft, aber die Tränen kommen immer weiter, verschleiern mein Blickfeld, und ich muss rasch auf den schwindsüchtigen Seitenstreifen des Highways hinüberlenken und einen verblüffenden Schluchzer hinunterwürgen, während ich die Park-Stellung einlege.
    Sammy. Dieses eine Bild von ihm reicht mir völlig aus, um zu begreifen, dass ich mein Gedächtnis bis jetzt betrogen habe, indem ich mich strikt innerhalb der Grenzen einer literarischen Figur mit ihm befasst habe, nicht gewillt, auf persönlicher Ebene irgendetwas mit ihm zu tun zu haben. Ich glaubte, ich hätte meine Dämonen ausgetrieben, indem ich dieses Buch schrieb, aber jetzt kann ich erkennen, dass ich sie nur vorübergehend besänftigt habe. Und jetzt bin ich auf dem Weg zurück nach Falls, wo sein Geist und andere auf mich warten, und ich werde mich mit ihm und allem, was passiert ist, noch einmal von vorn auseinander setzen müssen, nur diesmal ohne den strukturierten Puffer meiner Seiten und Kapitel, um sie alle in Schach zu halten. Mich schaudert, und ich wische mir die feuchte Wärme von den Wangen, während ich mühsam meinen Atem wieder unter Kontrolle bringe. Autos schießen auf dem Merritt wie Raketen an mir vorbei und rütteln mit ihrer Kraft sanft an meinem Wagen, der im Leerlauf auf dem Seitenstreifen steht.
    Es gab eine Zeit, als ich noch nicht so war, als ich Freunde hatte und mich um sie sorgte. Sammy, Wayne und ich, drei Unangepasste, die es irgendwie schafften, zueinander zu passen. Und dann ging alles völlig den Bach runter, und wir passten nicht mehr zueinander, aber eine Zeit lang hatten wir da etwas. Und ich hatte außerdem sogar noch Carly.
    Die Zeit heilt nicht unbedingt alle Wunden; sie vergräbt sie meist nur im Dickicht deines Gehirns, wo sie auf der Lauer liegen, um dir einen Hinterhalt zu stellen, wenn du am wenigsten damit rechnest. Und so wurde im Laufe der Jahre Sammy zu wenig mehr als einem Ausstellungsstück im Museum meines Gedächtnisses, und Wayne wurde auf ein rätselhaftes Hologramm reduziert, das immer wieder dunkel in meiner Wahrnehmung auftauchte. Nur Carly hielt sich als lebendes Inventar in meinem Bewusstsein und entzog sich hartnäckig allen Versuchen, sie hinter die gläserne Wand meines Gedächtnisses zu schieben, vielleicht weil ich sie als Erwachsener geliebt hatte oder viel-leicht, weil das eben Carly war, die durch die schiere Kraft ihrer Persönlichkeit eine solche Schmälerung nie zulassen würde. Was immer der Grund sein mag, all meine Empfindungen und Erfahrungen sind noch immer von einem undeutlichen Bewusstsein von ihr gefärbt, und wohin ich auch gehe, schwebt sie im Hintergrund mit, ständig gegenwärtig. Sie ist noch immer ein solch wesentlicher Teil meines Lebens, der Schmerz ist noch immer so frisch, dass ich gar nicht glauben kann, dass wir seit fast zehn Jahren kein Wort miteinander gewechselt haben. Alle wollen immer wissen, woran man erkennen kann, dass es echte Liebe ist, und die Antwort ist die: wenn der Schmerz nicht nachlässt und die Narben nicht verheilen und es verdammt nochmal zu spät ist.
    Die Tränen drohen wieder hochzukommen, und so verbanne ich entschlossen alle Gedanken aus meinem Kopf und hole noch ein paar Mal tief Luft. Auf einmal ist mir schwindelig von der Panikattacke, die ich eben erlitten habe, und ich schließe die Augen und lehne den Kopf gegen das warme Leder des Lenkrads. Die Einsamkeit existiert nicht einfach auf einer einzigen Ebene des Bewusst-seins. Sie ist im Allgemeinen ein leises Hämmern, kaum hörbar, wie das Brummen eines Mercedesmotors in der Park-Stellung, aber immer wieder verlangen die Anforderungen des Highways nach einer plötzlichen Beschleunigung, und das Brummen wird zu einem donnernden, urwüchsigen Dröhnen, und du wirst wieder einmal daran erinnert, was dieses Baby unter seiner Haube hat.

5
    1986
    Sammy Haber zog im Sommer vor unserem letzten Highschooljahr nach Bush Falls, ein milchgesichtiger, magerer Junge mit sandblondem Haar, das mit Hilfe von Gel zu einer tollkühnen Höhe frisiert war, Hornbrille und einem bedauernswerten Hang zu Bundfaltenhosen und Penny-Loafern. Er und seine Mutter waren aus Manhattan hergezogen, das sie, so wurde gemunkelt, im Zuge irgendeines Skandals verlassen mussten. Das Fehlen konkreter Details hielt die mächtige Gerüchteküche in Falls nicht auf, wurde im Grunde dadurch sogar eher bevorzugt, da auf diese Wei-se jede Menge Raum für
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