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Stadt der tausend Sonnen

Stadt der tausend Sonnen

Titel: Stadt der tausend Sonnen
Autoren: Samuel R. Delany
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Familienchronometer im Fußboden, vorbei an der Korridorbiegung mit dem ungewöhnlichen akustischen Effekt – wenn man dort stand, konnte man selbst das leiseste Flüstern zehn Meter entfernt an der Garderobe hören –, vorbei am Trophäenzimmer und hinein in den Ballsaal. Hoch, groß und dämmerig breitete er sich bis zu dem breiten Treppenaufgang zur Galerie aus. Jons Sandalen klapperten ganz leicht auf dem Marmorboden, und einen Augenblick hatte er das Gefühl, als folgten ihm unzählige Geister seiner selbst in das Eßzimmer.
    Die Tür war geschlossen. Er klopfte. Eine Stimme fragte: »Ja? Wer ist da? Herein.«
    Jon öffnete die Tür – und Hunderte von Uhren tickten.
    Überrascht blickte der stattliche Mann mit dem weißen Haar auf. »Wer sind Sie? Ich gab Anweisungen, niemanden einzulassen, ohne …«
    »Vater«, sagte Jon.
    Koshar wich in seinem Sessel zurück. Sein Gesicht lief dunkel an. »Wer sind Sie und was wollen Sie hier?«
    »Vater«, sagte Jon erneut und diesmal dachte er: Das Erkennen hängt wie glitzerndes Licht vor ihm, doch er scheut ängstlich davor zurück. »Vater, ich bin es, Jon.«
    Koshar beugte sich wieder vor. Seine Hände sanken schwer auf den Schreibtisch. »Nein!«
    »Ich bin zurückgekehrt, um mit dir zu sprechen, Vater«, sagte Jon und dachte: Selbst in seiner Verleugnung erkennt er mich an. Als er sich vor den Schreibtisch stellte, hob der alte Mann den Kopf. Seine Lippen bewegten sich stumm, als fände er nicht die richtigen Worte. Schließlich sagte er: »Wo warst du, Jon?«
    »Ich …« Plötzlich wandte seine Wahrnehmungskraft sich nach innen, und genauso deutlich wie er seinen Vater gesehen hatte, sah er nun die chaotischen Emotionen, die in ihm explodiert waren. Er hätte am liebsten geweint wie ein Kind, das sich verlaufen und das man in der Dunkelheit wiedergefunden hatte, oder wie ein Mann, der sich im Dunkeln verirrt und sich im Licht selbst wieder zurecht gefunden hatte. In der Nähe stand ein Sessel. Er setzte sich. Das half ihm, die Tränen zurückzudrängen. »… ich war lange fort an den verschiedensten Orten. Vom Straflager weißt du ja. Dann stand ich in den vergangenen drei Jahren im Dienst der Herzogin Petra. Ich erlebte viele Abenteuer und wurde erwachsen. Jetzt bin ich zurückgekommen.«
    »Warum?« Koshar zitterte am ganzen Leib. »Warum? Willst du um Vergebung bitten, weil du mir Schande angetan hast. Daß ich meinen Freunden und Bekannten nicht mehr in die Augen schauen konnte?«
    Jon schwieg einen Moment, dann murmelte er: »Auch du hast gelitten?«
    »Gelitten …?«
    »Fünf Jahre lang«, sagte Jon sanfter, als er beabsichtigt gehabt hatte, »sah ich die Sonne weniger als eine Stunde am Tag. Fünf Jahre lang wurde ich angebrüllt, geprügelt, schuftete ich in der Dunkelheit der Tetronminen und bekam Muskeln, wie ich es nie geglaubt hätte. Ich schürfte mir an den Felsen meine Haut von den Händen. Du hast gelitten?«
    »Warum bist du zurückgekommen?«
    »Um dich nach …« Er unterbrach sich. »Ich kam, um dich zu bitten, mir zu verzeihen, daß ich dir so weh getan habe – wenn du es kannst.«
    »Nun, ich …« Jetzt begann der alte Koshar zu weinen. Es war der trockene Laut eines Mannes, dem Tränen fremd waren. »Jon«, schluchzte er. »Jon!«
    Jon schritt um den Schreibtisch herum und legte die Arme fest um die Schultern seines Vaters, und er dachte: Das Gefährlichste tun wir rein aus Instinkt, indem wir uns auf uns selbst, auf unsere Erfahrung verlassen; und das Schwerste tun wir schnell, wir gehen eine vertraute Straße zu einer vertrauten Tür, in jenem Augenblick, da wir zurückkehren, um vorwärtsgehen zu können. »Vater«, fragte er. »Wo ist Clea? Ich möchte auch sie gern sehen.«
    Koshar sog die Luft ein. »Clea? Sie ist fortgegangen.«
    »Wohin?«
    »Ich weiß es nicht. Irgendwohin mit diesem Geschichtsprofessor von der Universität.«
    »Catham?«
    »Sie haben gestern geheiratet. Ich fragte sie, wohin sie gehen, aber sie sagten es mir nicht. Sie sagten es mir einfach nicht!«
    »Warum nicht?«
    Koshar schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
    »Sie haben dir auch den Grund nicht gesagt?«
    »Deshalb bin ich ja so beunruhigt. Und ich machte mir auch solche Sorgen um dich, Jon. Es war schrecklich, daran zu denken, wie du dich in den Minen abplagen mußtest, während ich hier von dem Erz lebte, das du fördern mußtest. Das war schlimmer für mich als alles, was meine Freunde hätten sagen können.« Koshar blickte auf seine Finger,
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