Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt Aus Blut

Stadt Aus Blut

Titel: Stadt Aus Blut
Autoren: Charlie Huston
Vom Netzwerk:
Tages vielleicht mal eine Ausnahme.
    Ich drehe mich nicht um.
    – Dann hab ich ja was, worauf ich mich freuen kann.
    Sie lacht.
    – Wenn du bis dahin noch lebst, Joe.
     
    – Simon. Komm rein.
    Ich sitze auf dem Boden in Daniels Zelle und beobachte ihn beim Essen. Er sitzt im Schneidersitz und hält eine winzige Schüssel zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Schüssel kann nicht mehr als einen Teelöffel voll Blut enthalten. Während wir reden, befeuchtet er die Lippen mit dem Blut und leckt sie dann mit seiner blassen Zunge ab. Er deutet mit der Schüssel auf mich.
    – Willst du ein bisschen?
    Ich betrachte die kleine Messingschüssel in seiner Hand.
    – Warum nicht. Es ist wahrscheinlich sowieso mein Stoff.
    Er hält die Nase an die Schüssel und atmet tief ein.
    – Ja, du hast recht.
    Er bietet mir die Schüssel an.
    – Bitte, trink aus. Ich bin satt.
    Ich nehme die fingerhutgroße Schale und kippe sie hinunter. Lecker.
    – Sagst du mir warum, Daniel?
    Er nickt.
    – Aber erst würde ich dir gerne eine Frage stellen.
    Ich fahre mit dem Finger durch die Schüssel und lecke ihn ab. Dann stelle ich die Schale vor mich auf den Boden.
    – Schieß los.
    – Wie war es?
    Ich starre in die leere Schale.
    – Wie war was?
    – Bitte, Simon. Du brauchst dich vor mir nicht zu schämen. Hab keine Angst. Wie war es?
    Ich denke an den Hunger. Ich denke an die Krämpfe und das Brennen. Ich denke an die Hilflosigkeit. Und ich denke an die glänzende Helligkeit der Welt, als ich kurz vor dem Tod stand.
    – Es war schön.
    – Und?
    – Gefährlich.
    Seine Spinnenfinger fahren über seinen Schädel.
    – Wie immer genau auf den Punkt. Schön und gefährlich. Das ist der Grund für die Existenz der Enklave. Vielen Dank. Aber zurück zu deiner Frage nach dem Warum.
    – Genau.
    – Weil du zur Enklave gehörst, Simon.
    – Nein.
    Er wedelt mit der Hand in der Luft herum.
    – Diese Diskussion müssen wir nicht noch einmal führen. Du bist, was du bist. Das wird sich nicht ändern. Du musst es nur irgendwann akzeptieren.
    – Also hast du dir gedacht, es wäre an der Zeit für ein bisschen Selbstfindung und hetzt diesen... verfickten Geist oder was auch immer auf mich? Du hast ihn zu mir nach Hause geschickt, damit er meinen Vorrat klaut. Ich wäre beinahe draufgegangen.
    – Aber nur beinahe. Sag mir: Hättest du überlebt, wenn du das Vyrus nicht so unmittelbar erfahren und deine wahre Natur erkannt hättest? Hättest du deine Gegner bezwingen können?
    Ich denke an den Gorilla, und wie kräftig er war. Und an die Kugeln aus Hordes Pistole.
    – Nein. Allerdings wäre ich vermutlich auch gar nicht erst in diese Situation geraten.
    – Das stimmt so nicht. Wärst du fett und gut genährt gewesen, hättest du dich den Ereignissen nicht gestellt und wärst gestorben, ohne diesen Raum überhaupt betreten zu haben. Tatsächlich hat dich das, was du als Schwäche bezeichnest, in Übereinstimmung mit den Abläufen gebracht. Und irgendwann warst du bereit.
    – Das ist doch Blödsinn, Daniel.
    – Es ist die Wahrheit.
    – Wahrheit gibt’s nicht.
    Er nickt.
    – Und das ist die größte Wahrheit von allen.
    – Scheiße. Bist du fertig?
    – Eins noch. Ich will, dass du mir etwas versprichst.
    Ich soll ihm etwas versprechen. Dem Mann, der mir irgend ein Ding auf den Hals gehetzt und mich fast hat verhungern lassen. Und mir dann das Ding noch mal geschickt hat, um auf mich aufzupassen. Damit es Horde tötet, bevor er mich töten konnte. Dieses Versprechen werde ich halten müssen.
    – Was für ein Versprechen?
    – Nur, dass du nachdenkst. Über dein Leben. Wie du es lebst.
    Oh, Himmel.
    – Wann wurde dir das Vyrus geschenkt?
    – Vor ungefähr dreißig Jahren.
    – Ja. Das ist eine lange Zeit. Viele halten nicht mal ein Jahr durch. Nur wenige schaffen mehr als zehn. Diejenigen, die am Leben bleiben, müssen sich in Löchern und Verstecken verkriechen. Sie brauchen die Hilfe anderer, die ihre Art zu leben verstehen können. Die ewige Nacht, die Wunden, die verheilen, die immerwährende Jugend. Aber du, du lebst allein. Ohne Schutz. Mitten zwischen jenen, die das Vyrus nicht in sich haben. Seit dreißig Jahren schon. Das ist entweder eine große Leistung oder ein großer Misserfolg. Simon, du klammerst dich an ein Leben, von dem du denkst, dass es einem Menschen zusteht. Aber du bist kein Mensch mehr. Schon seit langer Zeit. Du hast eine wahre Natur, wie alle, die das Vyrus empfangen haben. Aber nur die Enklave erkennt diese
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher