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Sputnik Sweetheart

Sputnik Sweetheart

Titel: Sputnik Sweetheart
Autoren: Haruki Murakami
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Serviette auf ihrem Schoß zusammen und sah Sumire mit einem unverbindlichen Lächeln an. Mius Augen waren sehr dunkel. Mehrere Farben mischten sich in ihnen, aber ihr Blick war klar und unumwölkt.
    »Aber die Melodie gefällt Ihnen doch, oder?«
    »Ja, die Melodie ist wunderschön.«
    »Wenn die Musik schön ist, finde ich, können Sie zufrieden sein. Schließlich kann nicht alles auf dieser Welt nur süß und lieblich sein. Ihre Mutter hat den Text wahrscheinlich nicht beachtet, weil sie die Melodie so hübsch fand. Und außerdem – wenn Sie weiter dauernd so ein Gesicht ziehen, kriegen Sie Falten.«
    Sumire entspannte ihr Gesicht.
    »Wahrscheinlich haben Sie Recht, ich war nur so schrecklich enttäuscht. Mein Name ist das einzige Konkrete, das mir von meiner Mutter geblieben ist. Abgesehen von mir selbst natürlich.«
    »Ich finde jedenfalls, dass Sumire ein bezaubernder Name ist. Mir gefällt er«, sagte Miu, wobei sie den Kopf ein wenig zur Seite neigte, als wolle sie die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten. »Ist Ihr Vater übrigens auch hier?«
    Sumire schaute sich suchend nach ihrem Vater um. Wegen seiner stattlichen Größe fiel es ihr auch in dem großen Saal nicht schwer, ihn zu entdecken. Er saß zwei Tische weiter und wandte sich im Gespräch gerade einem zierlichen älteren Herrn im Frack zu. Sein Lächeln war so warm und herzlich, dass es einen Eisberg zum Schmelzen gebracht hätte. Im Schein der Kronleuchter erhob sich seine edle Nase sanft wie die Silhouette einer Rokoko-Kamee, und selbst Sumire, die an seinen Anblick gewöhnt war, war von seiner Schönheit beeindruckt. Ihr Vater hatte genau die richtige Erscheinung für ein offizielles Ereignis wie dieses. Seine Anwesenheit allein verlieh dem Saal einen vornehmen Glanz, wie Blumen in einer großen Vase oder eine pechschwarze Stretch-Limousine.
     
    Als Miu Sumires Vater entdeckte, war sie einen Moment lang sprachlos. Sie atmete hörbar ein, ein Laut wie das Rauschen eines Samtvorhanges, der an einem heiteren Morgen zur Seite gezogen wird, um das Tageslicht hereinzulassen und einen geliebten Menschen zu wecken. Sumire überlegte, ob sie vielleicht ein Opernglas hätte mitbringen sollen. Allerdings war sie an die dramatischen Reaktionen gewöhnt, die das Äußere ihres Vaters bei manchen Menschen – besonders bei Frauen mittleren Alters – auslöste. Was bedeutet Schönheit, welchen Wert hat sie? hatte Sumire sich immer wieder gefragt, doch bisher hatte ihr niemand eine Antwort geben können. Jedenfalls schien sie stets die gleiche Wirkung hervorzurufen.
    »Wie ist es, einen so gut aussehenden Vater zu haben?«, erkundigte sich Miu. »Ich frage aus Neugier.«
    Sumire seufzte – wie oft war diese Frage ihr schon gestellt worden. »Es ist nicht besonders amüsant. Alle denken das Gleiche. Was für ein gut aussehender Mann. Wundervoll. Dabei ist die Tochter so unscheinbar. Wahrscheinlich ein Atavismus.«
    Miu wandte sich Sumire zu, senkte leicht das Kinn und musterte ihr Gesicht, als bewundere sie ein Gemälde in einem Museum.
    »Falls Sie bisher dieser Meinung waren, haben Sie sich gründlich geirrt. Sie sind ausgesprochen hübsch. Darin stehen Sie Ihrem Vater um nichts nach«, sagte Miu und streckte wie selbstverständlich die Hand aus, um Sumires Hand zu berühren. »Sie sind sehr attraktiv, auch wenn Sie es selbst nicht wissen.«
    Sumire wurde es ganz heiß im Gesicht. Ihr Herz hämmerte, als würde ein durchgegangenes Pferd über eine hölzerne Brücke galoppieren.
    Von nun an waren Sumire und Miu völlig in ihr Gespräch vertieft und nahmen nichts mehr von dem wahr, was um sie herum vorging. Es war ein lebhaftes Fest. Mehrere Leute erhoben sich, um Reden zu halten (darunter gewiss auch Sumires Vater), und das Essen war auch nicht schlecht. Doch Sumire erinnerte sich an nichts von alldem. Sie wusste weder, ob sie Fleisch oder Fisch, noch ob sie anständig mit Messer und Gabel oder mit bloßen Händen gegessen und anschließend den Teller abgeleckt hatte.
    Die beiden sprachen über Musik. Sumire mochte klassische Musik und hatte von klein auf die Platten aus der Sammlung ihres Vaters gehört. Miu und sie teilten viele musikalische Vorlieben. Beide liebten Klaviermusik und hielten Beethovens Klaviersonate Nr. 32 für den Höhepunkt der Musikgeschichte überhaupt. Ebenso waren sie beide der Meinung, dass Wilhelm Backhaus’ unvergleichliche Interpretation der Sonate für Decca mit ihrer vollendeten Heiterkeit und Lebensfreude den
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