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Spuren des Todes (German Edition)

Spuren des Todes (German Edition)

Titel: Spuren des Todes (German Edition)
Autoren: Judith O'Higgins , Fred Sellin
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zu geben. Dabei gab es verschiedene Schwerpunkte, die den jungen Leuten vermittelt wurden. Einer davon war: Wie wichtig es ist, die ärztliche Leichenschau in aller Gründlichkeit, so präzise wie möglich, durchzuführen. Das hielt ich für zielführender, als ihnen von irgendwelchen spektakulären Morden oder anderen außergewöhnlichen Todesfällen zu erzählen. Die gibt es zweifellos, keine Frage, und die sind dann auch besonders interessant. Nur machen sie nicht den Alltag eines Rechtsmediziners und schon gar nicht von Medizinern anderer Fachrichtungen aus.
    Um das zu verstehen, genügt ein Blick in die Kriminalstatistik. Für Hamburg weist sie in den letzten zehn Jahren zwischen sechzig und hundert Tötungsdelikte aus – pro Jahr. Außer 2007 , da waren es weniger als fünfzig. Gezählt werden dabei sowohl versuchte als auch vollendete Tötungsdelikte, wobei die vollendeten stets deutlich in der Minderzahl sind. Sie machen weniger als ein Drittel der Gesamtzahl aus. Nur um einmal Wirklichkeit und Fiktion in die richtige Relation zu setzen. In manch einem »Tatort« werden innerhalb von neunzig Fernsehminuten mehr Menschen getötet als in einer mittelgroßen deutschen Stadt im ganzen Jahr.
    Bei dem anderen Punkt, auf den wir im Studentenunterricht besonderen Wert legten, handelte es sich um die Untersuchung von Menschen, die Gewalt erfuhren, die nicht zum Tod führte – vergewaltigte Frauen, misshandelte Kinder, andere Opfer körperlicher Übergriffe. Wie erkennt man als Arzt, dass jemandem Leid angetan wurde, auch wenn der Betroffene selbst nichts sagt, es womöglich sogar bestreitet? Viele schweigen, aus Scham oder weil sie dem Täter sehr nahestehen – oder aus Angst, er könnte sich rächen.
    Einen Spezialfall bilden Personen, die sich selbst Verletzungen beibringen, aber das Gegenteil behaupten, wenn sie danach vor einem Arzt stehen oder im Krankenbett liegen.
    Dabei kommt mir der Fall eines Fünfundzwanzigjährigen in den Sinn, der von einem meiner Kollegen begutachtet wurde. Der junge Mann hatte sich zu Hause ein Pornovideo reingezogen und dabei offenbar versucht, seine sexuelle Erregung zu steigern, indem er sich ein Stromkabel um den Hals schlang und zuzog, um die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn zu drosseln. Dabei muss er es übertrieben haben. Er wurde bewusstlos, stürzte zu Boden und schlug sich den Kopf auf.
    Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir von dem Fall niemals etwas erfahren. Denn er kam nach einer Weile wieder zu sich, offenbar kurz bevor seine Freundin zu Hause eintraf, die ihn im Schlafzimmer fand, mit blutender Kopfplatzwunde, hochrotem, aufgedunsenem Gesicht und Strangulationsmarke am Hals. Sie rief einen Rettungswagen, mit dem er in ein Krankenhaus gebracht wurde. Die Strangulationsmarke fiel auch dem Arzt, der den Neuzugang in der Notaufnahme empfing, gleich auf. Er verständigte die Polizei, zwei Beamte in Uniform rückten an.
    Die Geschichte, die ihnen der junge Mann auftischte, ging ungefähr so: Er habe am Nachmittag die Wohnung verlassen, um sich an einem Automaten Zigaretten zu ziehen. Gerade als er Geldstücke einwerfen wollte, das ging damals noch einfach so, habe jemand von hinten einen Lederriemen um seinen Hals geschlungen und ihn gedrosselt, bis er bewusstlos geworden sei. Nach einer Weile sei er wieder zu sich gekommen und nach Hause gelaufen, wo er sich dann ins Bett gelegt habe. An mehr könne er sich nicht erinnern.
    Die Sache mit dem Porno war ihm natürlich auch entfallen. Trotzdem hätte es so passiert sein können – allerdings hätten dann die Strangulationsmarke und auch die punktförmigen Blutungen in der Gesichtshaut, am Hals und am Nacken anders ausgesehen. Das Kabel war nämlich – entgegen seiner erfundenen Version mit dem Riemen – nicht bloß einmal wie eine einfache Schlinge um den Hals gelegt worden. Er musste es sich zweieinhalbmal um den Hals geschlungen haben. Vor allem konnte man nachweisen, dass nicht von hinten an den beiden Enden gezogen worden war, sondern von vorn. Und zwar mit ziemlich genau einer Ärmellänge Abstand zum Hals. Das ausgeprägte Stauungssyndrom wiederum, das sich unter anderem durch die punktförmigen Blutungen dokumentierte, sprach dafür, dass die Strangulation nicht kurz und heftig vonstattengegangen war, wie bei einem Überfall von hinten zu erwarten wäre, sondern ausdauernd in Form einer dosierten Drosselung.
    Die meisten Leute wissen gar nicht, dass auch solche Aufgaben zum Tätigkeitsbereich von
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