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Spuren des Todes (German Edition)

Spuren des Todes (German Edition)

Titel: Spuren des Todes (German Edition)
Autoren: Judith O'Higgins , Fred Sellin
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Rechtsmedizinern gehören. Viele verbinden unseren Beruf einzig und allein mit der Beschäftigung mit Leichen. Dabei nimmt gerade die Untersuchung von nichttoten Gewaltopfern zunehmend mehr Raum ein. Als das Hamburger Institut vor fünfzehn Jahren eine Gewaltopferambulanz einrichtete, war es bundesweit einer der Vorreiter auf diesem Gebiet. Auch vor dieser Zeit wurden schon Opfer schwerwiegender Gewalttaten von Rechtsmedizinern untersucht, allerdings recht wenige. Und wenn, dann geschah es im Auftrag der Staatsanwaltschaft, in erster Linie zur Beweissicherung. Das Neue an dem Hamburger Modell bestand in dem Ziel, mit dem Angebot möglichst jeden zu erreichen, dem Gewalt widerfahren ist, unabhängig davon, ob er vorher eine Anzeige bei der Polizei erstattet oder sich Hilfe bei einer Opferorganisation gesucht hat.
    Dass das Institut damit einen Nerv getroffen hatte, zeigte sich nicht im ersten und auch noch nicht im zweiten Jahr. So lange brauchte es, bis sich das Angebot bei allen relevanten Anlaufstellen herumgesprochen hatte, von der Polizeiwache bis zur Hausarztpraxis um die Ecke. Danach stieg die Zahl der untersuchten Gewaltopfer sprunghaft an. Erst waren es vierhundertvierzig in einem Jahr, im nächsten schon knapp siebenhundertfünfzig, und im Jahr darauf überstieg die Zahl bereits deutlich die Tausendermarke. Inzwischen gibt es in fast allen großen Städten ähnliche Einrichtungen. Wobei die Untersuchungen nicht immer in den Räumen eines Rechtsmedizinischen Instituts stattfinden, sondern häufig auch in dem Krankenhaus, wo das Opfer behandelt wird. Oder in Arztpraxen. Gerade bei Frauen, die vergewaltigt oder sexuell missbraucht wurden, ist es ratsam, mit dem behandelnden Gynäkologen zusammenzuarbeiten, wenn dieser für seine Patientin eine Vertrauensperson darstellt.
    Dass Rechtsmediziner im Unterschied zu anderen Ärzten für diese Aufgabe geradezu prädestiniert sind, liegt auf der Hand. Vielen in Krankenhäusern oder Praxen tätigen Ärzten fehlt es dazu einfach an Erfahrung. Und sie denken bei ihrer Arbeit eher im kurativen Sinne. Kommt jemand mit einer Verletzung zu ihnen, steht für sie im Vordergrund, dem Patienten zu helfen, die Wunde zu verarzten, damit es ihm bessergeht und die Wunde möglichst schnell heilen kann. Nicht aber, sich ein Bild davon zu machen, ob die Verletzung irgendwelche Besonderheiten aufweist und was sie möglicherweise darüber verrät, wie sie demjenigen zugefügt wurde – mit welcher Waffe, aus welcher Richtung, mit welcher Wucht? Wir dagegen sind darauf geeicht, nach genau solchen Informationen zu suchen und sie entsprechend präzise festzuhalten. Dazu gehört die ausführliche Beschreibung der Lokalisation einer Wunde genauso wie die der Wunde selbst. An welcher Körperstelle befindet sie sich? Wie groß ist sie, wie tief, welche Form weist sie auf? Wie sehen die Wundränder aus? All das. Und all das am besten noch durch Fotos dokumentiert. Wir betrachten jede einzelne Wunde, selbst kleinste Kratzer sollten uns nicht entgehen, die andere Ärzte schon mal ignorieren, da sie keiner Behandlung bedürfen. Und dann setzen wir sie wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammen, damit es uns möglichst genau Aufschluss darüber gibt, was geschehen ist. Das ist das Ziel.
     
    Doch zurück zum Fall der jungen Frau aus dem Dorf in Schleswig-Holstein: Mein Kollege Jan, den ich in dieser Nacht zum Tatort begleitet hatte, übernahm die Obduktion in dem Kreiskrankenhaus. Es war eine Außensektion. So werden Obduktionen beziehungsweise Sektionen genannt, die nicht in einem Institut für Rechtsmedizin stattfinden, sondern in einem auswärtigen Krankenhaus oder in einer Leichenhalle, die mit einem Sektionssaal ausgestattet ist. Wie die Zuständigkeiten heute aufgeteilt sind, weiß ich nicht, zu meiner Zeit war unser Institut zusätzlich zum Großraum Hamburg für bestimmte Regionen in den angrenzenden Bundesländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein zuständig, außerdem für Bremerhaven und Helgoland, wobei die Insel ja zu Schleswig-Holstein gehört. Manchmal wäre es sinnvoller gewesen, eine Leiche zu uns ins Institut bringen zu lassen, um sie dort zu obduzieren. Doch offenbar war es kostengünstiger, Rechtsmediziner durch die Gegend fahren zu lassen, als einen Leichentransport nach Hamburg und zurück zu bezahlen.
    Wann und wie rechtsmedizinische Sektionen stattzufinden haben, wird durch das Sektionsgesetz des jeweiligen Bundeslandes und die Strafprozessordnung, die für alle gilt,
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