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Spur ins Eis

Spur ins Eis

Titel: Spur ins Eis
Autoren: Blake Crouch
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schluchzte jemand laut. Er öffnete die Tür. Das Licht war ausgeschaltet, aber als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er die schwerfällige Gestalt von Rachaels Schwester Elise, die in der Ecke neben der Kommode kauerte.
    »Alles in Ordnung ?«, fragte er. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Stimme wiederfand. Er blickte über ihren Kopf aus dem Fenster, und ihm fiel auf, dass im Vorgarten seltsame Lichter waren.
    »Sie ist tot, Will. Ich spüre es.« Er schloss die Augen und versuchte sich gegen ihre Worte zu wappnen. Am liebsten hätte er sie geschlagen, weil sie die Befürchtung aussprach, die alle insgeheim hegten. »Spürst du es nicht auch, Will ?« Er verließ das Zimmer und ging wieder ins Esszimmer. Sein Whiskey stand noch auf dem Tisch.
    Mit einem großen Schluck verstärkte er das wundervolle Kissen, das ihn vor der Realität abschirmte. Der Raum um ihn herum summte, und wenn er noch mehr trinken würde, würde sich alles drehen.
    Er war gerade auf dem Weg zur Haustür, um nachzusehen, was es mit den merkwürdigen Lichtern auf sich hatte, als ihn jemand am Arm packte.
    »Hey, Will. Sie halten doch durch, oder ?« Er konnte sich an den Namen des Mannes nicht erinnern, und dann fiel ihm ein, warum. Er wohnte in der Nachbarschaft, aber sie hatten sich nie kennengelernt. Will erkannte ihn nur, weil der Mann jeden Samstagmorgen, wenn Will und Rachael auf dem Weg ins Fitnessstudio an seinem Haus vorbeifuhren, seinen weißen Lexus in der Einfahrt wusch.
    Er war in Wills Alter, Latino.
    »Entschuldigung, wie ist Ihr Name ?«, fragte Will.
    »Miguel. Sie und Ihre Frau winken immer, wenn Sie an meinem Haus vorbeifahren. Ich habe die Nachrichten gesehen und all die Autos da draußen. Ich dachte, ich komme mal vorbei. Wenn ich etwas tun kann …«
    Will spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten, und ob es nun am Whiskey oder an diesem ganzen, schrecklichen Tag lag, er war plötzlich völlig überwältigt von der Freundlichkeit dieses Mannes, den er nur durch Gesten kannte.
    »Danke, Miguel.« Er wischte sich über die Augen und räusperte sich. »Wollen Sie sich nicht etwas zu essen oder zu trinken holen ? In der Küche ist ein Riesen-Büffet aufgebaut.«
    Als Miguel gegangen war, öffnete Will die Haustür und trat auf die Veranda.
    »O Gott«, flüsterte er. Das Kissen löste sich auf, und das ganze Gewicht von Rachaels Abwesenheit drückte ihn nieder. Er sank auf die Stufen. Das alles passiert also wirklich . Vor dem Haus stand der Lieferwagen eines Nachrichtensenders, eine große Satellitenschüssel auf dem Dach. Und auf dem Rasen stand etwa ein Dutzend Leute im Kreis zwischen den Yuccas und Saguaros. Sie hielten Kerzen in den Händen, deren Flammen im Abendwind aus der Wüste flackerten.
    Er betrachtete den Flammenkreis. Der Himmel wurde dunkler, und er hatte solche Magenschmerzen, dass er nur ganz flach atmen konnte.
    Die Stimme einer Frau sagte : »Gott im Himmel, du sagst, du bist anwesend, wo sich auch nur zwei in deinem Namen versammeln. Nun, hier stehen wir, Herr, und bitten dich darum, uns Rachael Innis zurückzubringen.«
    Schwankend stand er auf und stolperte auf sie zu. Er hatte seit Jahren nicht mehr gebetet, seit sie erfahren hatten, dass ihre Tochter krank war. Er war sauer auf Gott gewesen. Das war heute Nacht vorbei.

6
    Will trat aus dem Kerzenkreis und wandte sich zum Haus, um nach Devlin zu schauen. Er hatte es zwar eigentlich gewollt, aber dann hatte er doch nicht laut gebetet. Es war schon zu lange her, und seine Kommunikation mit Gott war eingerostet, vor allem in der Gegenwart fremder Menschen.
    Er war gerade an der Haustür angekommen, als sie aufging. Rachaels Mutter stand auf der Schwelle.
    »Im Wohnzimmer wartet ein Detective, Will. Er möchte mit dir sprechen.«
    Aus irgendeinem Grund hatte Will einen jüngeren Mann erwartet, jemanden in seinem Alter, mit militärisch kurzen Haaren und strengem, misstrauischem Blick. Als Verteidiger hatte er viel mit Polizisten zu tun, und seiner Meinung nach waren die meisten süchtig nach Autorität, ein fantasieloser, reaktionärer Haufen, der sich rasch eine starre Meinung von etwas bildete. Aber auf den ersten Blick entsprach der Detective, der auf seiner Couch saß, nicht diesen Vorurteilen. Er saß zwischen zwei Freundinnen Rachaels aus dem Yogakurs, die Hände flach auf den Knien, und betrachtete mit stoischer Ruhe eine gerahmte Fotografie über dem Kaminsims – eine Aufnahme aus ihrem Sommerurlaub im Grand
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