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Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Titel: Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
Autoren: Kai Biermann , Martin Haase
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seit vielen Jahren eingeführt ist und wohl von jedem verstanden wird: Umsatzsteuer, hierzulande auch als Mehrwertsteuer bekannt. Um nichts anderes geht es. Wer mit Geld, Aktien oder Derivaten handelt, der soll eine Steuer auf seinen Umsatz zahlen. Der Technizismus Finanztransaktionssteuer , der fremd und aufwändig klingt, verschleiert erfolgreich, dass bei Aktienhändlern eine solche Umsatzsteuer bislang eben nicht erhoben wird, sie sind von ihr befreit. Gleichzeitig hat die Finanztransaktionssteuer den Vorteil, wie eine völlig neue Idee zu wirken, so als würde die Regierung ein geradezu revolutionäres Konzept diskutieren. Dabei gibt es dieses Konzept längst, beziehungsweise gab. Es hieß damals nur klarer Börsenumsatzsteuer und wurde 1991 abgeschafft. Übrigens durch das sogenannte Finanzmarktförderungsgesetz. Man hätte es auch gleich Bankensubventionsgesetz oder Geldgeschenk nennen können.

Flüchtlingsbekämpfung
    Dieser Begriff ist kein Neusprech, denn er vernebelt und verschleiert nichts. Die Flüchtlingsbekämpfung drückt wortgetreu aus, was diejenigen meinen, die das Wort benutzen: Sie wollen hier keine Fremden und bekämpfen sie mit allen Mitteln, damit sie dieses Land gar nicht erreichen oder es wenigstens so schnell wie möglich wieder verlassen. Die Flüchtlingsbekämpfung klingt wie das, was sie ist: ein Krieg gegen Fremde. So viel Offenheit ist in der politischen Sprache selten. Dabei hat Aristoteles in seiner »Rhetorik« einst diese Philalethie, diese Liebe zur Wahrhaftigkeit, als wichtigste Tugend des Redners gefordert. Seitdem ist sie allerdings ein wenig aus der Mode gekommen. Genau deswegen soll die Flüchtlingsbekämpfung hier stehen, als offensichtliche Ausnahme. Wobei wir davon ausgehen, dass sie ein Versehen war. Die Bundeskanzlerin, der wir diesen Begriff verdanken, wollte sicher so etwas sagen wie »Bekämpfung der illegalen Wanderung«. So zumindest wird die Flüchtlingsbekämpfung im Schengener Abkommen bezeichnet. Und das klingt schon viel eher nach dem üblichen Politikersprech.

FMS Wertmanagement
    Selten deutliches Beispiel für bewusste Vernebelung: Die damit bezeichnete Wertpapier-Entsorgungsanstalt, auch euphemistisch →   Bad Bank genannt, ist nicht mit Management betraut. Zumindest nicht im eigentlichen Sinn. Denn to manage bedeutet, etwas »mit der Hand zustandebringen« oder »mit der Hand lenken«. Zustande aber bringt die Anstalt nichts, im Gegenteil. Statt zu erschaffen, soll sie wertlose Wertpapiere so teuer wie noch möglich verkaufen. In diesem Zusammenhang von einem Management der Werte zu sprechen, grenzt an Lüge. Doch es geht noch weiter. Die Abkürzung FMS steht für Finanzmarktstabilisierung. Die ist aber nur ein Teil der FMSA, was wiederum Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung meint, zu der die FMS Wertmanagement gehört. Bei dieser Mischung aus abgekürzten Abkürzungen und Antiphrasen (»wert« für »unwert«) ist man nicht mehr weit entfernt vom miniplenty . Das war die Abkürzung für das Ministry of Plenty , das Ministerium für Überfluss, das in Orwells Lügenstaat in »1984« den Mangel verwaltet. Selbst das aber schien den Beteiligten noch nicht genug: Sie haben die Aktienmüllkippe noch weiter veredelt und die Abkürzung zu FMS-WM abgekürzt. Was den sicher nicht unerwünschten Nebeneffekt hat, das der eine oder andere dabei an einen Weltmeister denkt. Oder völlig den Überblick verliert.

Folgen, nukleare
    Das Adjektiv nuklear leitet sich vom lateinischen Substantiv nucleus ab, das »Kern« bedeutet, und heißt im heutigen Sprachgebrauch fast ausschließlich »den Atomkern betreffend«. Beziehungsweise wird es verwendet, wenn dem beschriebenen Sachverhalt eine sogenannte Kernreaktion zugrunde liegt, also der Zusammenstoß mehrerer Atomkerne. Praktischerweise merkt man dem Adjektiv sein atomares, beziehungsweise sein strahlendes Wesen nicht so an, weswegen es gern als verharmlosendes Synonym für »radioaktiv« verwendet wird. Die nuklearen Folgen nun passen hier eigentlich gar nicht hin. Denn die Folgen von Radioaktivität sind ja nicht nuklear, sondern es sind zum Beispiel Haarausfall, Missbildungen oder Tod. Es sind somit Folgen eines nuklearen Prozesses. Die Zusammenziehung zu nuklearen Folgen ist somit eine sogenannte Nebelkerze, ein verschleiernder Begriff. Für eine solche Attribuierung, die aufgrund ihrer Konstruktion die Wortbedeutung verschiebt, wurde in der antiken Rhetorik die Bezeichnung Enallage verwendet: Folgen sind
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