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Spion auf der Flucht

Spion auf der Flucht

Titel: Spion auf der Flucht
Autoren: Stefan Wolf
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Fenster hatte er sich in
einen bequemen Sessel niedergelassen. Und das Gipsbein auf einem Hocker
ausgestreckt. Krücken und Telefon standen bereit. Neben Lattmanns Sessel
stapelten sich Kunstbildbände.
    Der Kunsterzieher war schmächtig und
unsportlich. Seit seiner Kindheit hatte er keinen Ball mehr angefaßt und keine
Turnschuhe getragen. Er neigte zu schlechter Haltung und wog nur 64 Kilo bei
einer Größe von 188 cm. Kummer bereitete ihm das nicht. Selbst mit dem
Schwinden seiner Künstlermähne hatte sich sein sonniges Gemüt abgefunden. Er
neigte nämlich zum Haarausfall, und die Stirn dehnte sich aus. Da ihm die Haare
hinten bis auf die Schultern hingen, bot er einen komischen Anblick.
    „Wenn du uns Tee machst, Gaby“, meinte
er, „trinken wir alle ein Täßchen.“
    „Den Tee brüht Karl“, bestimmte sie.
„Ich muß mit Ihnen abrechnen.“
    Also stakte Karl in die Küche hinunter
— und tröstete sich damit, daß Jungen und Mädchen heutzutage gleichberechtigt
sind, also auch die gleichen Pflichten erfüllen dürfen.
    Gaby zeigte Lattmann den Kassenzettel,
den er gar nicht sehen wollte, weil er vollstes Vertrauen hatte. Doch sie
bestand darauf und zählte dann das überschüssige Geld ab.
    „Leg’s doch bitte auf den Schreibtisch“,
bat er. Im nächsten Moment schrie er: „Nein, nicht auf das Bild.“

    Gabys Hand voller Münzen erstarrte in
der Luft.
    Stirnrunzelnd blickte sie auf ein Blatt
im DIN-A-4-Format, das auf dem Schreibtisch lag. Jemand hatte es offensichtlich
benutzt, um seine Farbpinsel daran abzuwischen. Ein buntes Geschmiere war
entstanden.
    „Hier ist kein Bild“, sagte sie.
    „Aber ja. Das ist sogar ein Original
(vom Künstler eigenhändig geschaffenes Werk). Deshalb bitte nichts
drauflegen. Es heißt: Während des Urknalls ( Entstehung des Weltalls). Ich kenne den Maler persönlich. Detlef Blassmüller ist ein Hiesiger und gibt
Anlaß zu großen Hoffnungen. Ich bin mit ihm befreundet und stolz darauf. Das
Gemälde dort ist auch von ihm.“
    Gabys Blick folgte Lattmanns
ausgestrecktem Arm.
    An der Wand hing ein großes Foto. Es
zeigte eine Zirkusnummer, die der Fotograf festgehalten hatte: einen
Schimpansen, der auf einer Geige spielte und von fünf kleinen Schimpansen
umgeben war. Sie lauschten ihm andächtig.
    „Ich sehe kein Gemälde“, sagte Gaby.
    „Dort, dort! Der Schimpansen-Menuhin ( Menuhin = weltberühmter Geigenspieler).“
    „Das ist doch ein Foto.“
    „Eben nicht. Ein Gemälde.“
    Gaby trat näher. Jetzt sah sie, daß es
sich um Ölfarbe handelte und nicht um Zelluloid.
    „Toll! Total naturgetreu.“
    „Ja, das kann Blassmüller auch. Er kann
so malen und so malen. Ein Genie. Nur zur Zeit befindet er sich in einer schwachen
Periode. Er hängt gemütsmäßig völlig durch. Eine reine Selbstsuchts-Phase.“
    „Aha!“ nickte Gaby. „Und wie äußert
sich diese Selbstsuchts-Phase?“
    „Er malt nur sich selbst. Nur Porträts
( Brustbilder ) von Detlef Blassmüller. An die 50 hat er fertig. Aber er
verkauft keine. Sie hängen alle draußen in seinem Haus in Grünauken.“
    „In Grünauken? Tim und Willi sind jetzt
dort. Bei Gernot Panczek und seinen Eltern. Tim verkauft sein altes Rennrad,
weil er seit gestern ein neues hat.“
    „Ein neues?“ fragte Lattmann
geistesabwesend. Rennräder interessierten ihn überhaupt nicht — höchstens
gemalte.
    „Ja. Zu den Porträts würde ich gern
wissen: Sind die naturgetreu oder in diesem wüsten Kraut-und-Rüben-Stil wie der
Urknall?“
    Lattmann lächelte. „Naturgetreu. Wie
fotografiert. Detlef meint, daß er als Motiv zu unbedeutend sei, um die
zerbrochene Form — den Kraut-und-Rüben-Stil, wie du es nennst — anzuwenden. Das
behält er sich vor für erhabene Themen.“
    „Wie den Urknall?“
    „Wie den Urknall“, bestätigte Lattmann.
    In diesem Moment gab es einen
gewaltigen Knall vor der Tür auf der Treppe.

2. Nette Nachbarn?
     
    Sie hörten, wie Karl fluchte.
    Bevor Gaby die Tür erreichte, kam er
herein.
    „Tut mir leid“, entschuldigte er sich.
„Aber als Kellner bin ich letzte Wahl. Eine Tasse und eine Untertasse sind nur
noch Scherben.“
    „Das macht doch nichts“, rief Lattmann
fröhlich, „Scherben bringen Glück. Welche ist es denn?“
    „Deutsche Bundesbahn — stand drauf.“
    „Schade! Die Tasse stammt aus meiner
Studentenzeit.“
    Gaby nahm Karl das Tablett ab, bevor
ein weiteres Unglück passierte.
    Vom Geschirr paßte nichts zusammen. Die
Kanne bestand aus dickwandiger
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