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Spin

Spin

Titel: Spin
Autoren: authors_sort
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dennoch kräftig und mit einigen Erfolgen in der Leichtathletik. Er war schon damals über eins achtzig groß, eher mager, die harsche Knochigkeit des Gesichts ausbalanciert durch ein etwas schiefes, aber aufrichtiges Lächeln. Seine Haare waren blond und borstig.
    Diane war gut zehn Zentimeter kleiner, rundlich allenfalls im Vergleich zu ihrem Bruder, und sie hatte eine dunklere Haut. Ihr Teint war makellos rein, abgesehen von den Sommersprossen rund um die Augen, die sie als »meine Waschbärenmaske« zu bezeichnete. Was mir an Diane am meisten gefiel – und ich hatte ein Alter erreicht, in dem derlei Details eine kaum verstandene, aber unbestreitbare Bedeutung annahmen –, das war ihr Lächeln. Sie lächelte selten, aber wenn, dann war es spektakulär. Sie war überzeugt (zu Unrecht), dass ihre Zähne zu weit vorstanden, und hatte sich daher angewöhnt, die Hand vor den Mund zu halten, wenn sie lachte. Ich brachte sie gern zum Lachen, doch es war ihr Lächeln, nach dem ich mich im Geheimen sehnte.
    Eine Woche zuvor hatte Jason von seinem Vater ein teures astronomisches Fernglas geschenkt bekommen. Nun spielte er die ganze Zeit damit herum – nahm etwa das gerahmte Reiseplakat über dem Fernseher ins Visier und gab vor, er würde von unserer Washingtoner Vorstadt aus Cancun ausspähen – und schließlich erhob er sich und sagte: »Wir sollten mal einen Blick auf den Himmel werfen.«
    »Nein«, erwiderte Diane sofort. »Es ist kalt draußen.«
    »Nun ja, die erste klare Nacht in dieser Woche. Außerdem ist es höchstens ein bisschen kühl.«
    »Auf dem Rasen war heute Morgen eine Eisschicht.«
    »Frost.«
    »Es ist schon nach Mitternacht.«
    »Aber Freitag, Wochenende.«
    »Wir sollen den Keller nicht verlassen.«
    »Wir sollen die Party nicht stören. Niemand hat was davon gesagt, dass wir nicht nach draußen dürften. Es wird uns auch niemand sehen – falls du Angst hast, erwischt zu werden.«
    »Ich hab keine Angst, erwischt zu werden.«
    »Wovor hast du dann Angst?«
    »Davor, dass mir die Füße abfrieren, während du mir die Ohren vollplapperst.«
    Jason wandte sich mir zu. »Was ist mit dir, Tyler? Willst du dir den Himmel angucken?«
    Ich wurde oft aufgefordert, bei den Meinungsverschiedenheiten der Zwillinge den Schiedsrichter zu machen, was mir ziemlich unangenehm war. Für mich gab es in diesen Situationen nichts zu gewinnen. Ergriff ich Jasons Partei, lief ich Gefahr, Diane vor den Kopf zu stoßen; wenn ich aber allzu oft für Diane entschied, würde es – nun ja, ziemlich offensichtlich wirken. Ich sagte: »Ich weiß nicht, Jase, es ist wirklich ziemlich kühl da draußen. Ich…«
    Diane erlöste mich aus meiner Verlegenheit. Sie legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Lass nur. Ein bisschen frische Luft ist wahrscheinlich besser, als wenn er die ganze Zeit rumjammert.«
    Also holten wir unsere Jacken aus dem Kellerflur und gingen durch die Hintertür nach draußen.
    Das Große Haus war nicht so gewaltig, wie der ihm zugedachte Spitzname es nahe legen mochte, aber doch größer als das Durchschnittsheim in dieser mittel bis gut situierten Wohngegend. Außerdem stand es auf einem ziemlich großen Grundstück. Eine ausgedehnte, sanft ansteigende und überaus gepflegte Rasenfläche ging hinter dem Haus in ein sich selbst überlassenes Fichtenwäldchen über, das an einen leicht verschmutzten Bach grenzte. Zum Sternegucken suchte Jason einen Platz irgendwo auf halbem Weg zwischen dem Haus und den Bäumen aus.
    Es war bislang ein schöner Oktober gewesen, erst gestern hatte eine Kaltfront dem Nachsommer den Garaus gemacht.
    Diane schlug demonstrativ die Arme umeinander und zitterte vor sich hin, doch das tat sie nur, um Jason zu strafen – die Nachtluft war kühl, aber nicht unangenehm. Der Himmel war kristallklar und das Gras einigermaßen trocken, wenn es auch zum Morgen hin wieder Frost geben mochte. Kein Mond und nicht die Spur einer Wolke. Das Große Haus war erleuchtet wie ein Mississippi-Dampfer und warf ein grelles gelbes Licht auf den Rasen, aber wir wussten aus Erfahrung, dass man in einer Nacht wie dieser im Schatten eines Baumes so vollständig verschwand, als wäre man von einem schwarzen Loch verschluckt worden.
    Jason lag auf dem Rücken und richtete sein Fernglas auf den Sternenhimmel.
    Ich saß im Schneidersitz neben Diane und sah, wie sie eine Zigarette aus ihrer Jackentasche zog, vermutlich von ihrer Mutter geklaut (Carol Lawton, eine Kardiologin und nominelle
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