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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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ihre Richtung, sobald sie vor die Tür trat. Sie hatte niemals einen anderen angesehen.
    Der Streit um das Häuschen in Masuren war der erste Konflikt in ihrem langen Zusammenleben, in dem Smutek nicht nachgeben wollte. Im Verlauf jeder Auseinandersetzung gelangten sie an die immer gleiche Stelle, an der Smutek auf Polnisch rief: »Das Kriegsrecht ist seit zwanzig Jahren nicht mehr in Kraft, General Jaruzelski wurde Vater des Runden Tischs, und deine Volksrepublik ist längst eine Demokratie!«
    Daraufhin pflegte Frau Smutek zu lachen, wobei sie ihren großen Mund schamlos dehnte, und Smutek fuhr allein nach Polen. Er kam unglücklich in Masuren an, pflegte unglücklich sein kleines Haus, das immer schöner wurde, und kehrte jedes Mal früher als geplant nach Deutschland zurück.
    In diesem Jahr war es anders gewesen. Frau Smutek hatte gelacht, ihren Mund gedehnt und sogar mit dem nackten Finger auf ihn gezeigt. Als er aber den Kofferraum seines Volvos mit einer Reisetasche und ein paar Eimern Parkettlasur auf Zitronenbasis belud, stand sie plötzlich neben ihm. Ohne ein Wort rückte Smutek die Lackeimer beiseite und schob ihren kleinen Koffer auf seine Tasche. Während der langen Fahrt sprachen sie nicht miteinander. Frau Smutek starrte die ganze Zeit aus dem Fenster, an dem brachliegende Felder, unverputzte Häuser und von Müll verunstaltete Straßenränder vorbeizogen, und Smutek schämte sich für alles, was sie sah, als wäre er persönlich am Zustand ihres Heimatlands schuld. Er konnte nicht aufhören, an das Vogelweibchen zu denken, das mit Schnabel und Flügeln ein kunstvolles Kugelnest zerstört. Als er das Auto im Leerlauf auf sein abschüssiges Grundstück rollen ließ und unter dicht belaubten Obstbäumen zum Stehen brachte, schwitzte er trotz der kühlen Abendstunde.
    Frau Smutek umrundete das Haus, stiefelte durch die hochgeschossene Wiese, befühlte geschlossene Fensterläden, schlug leicht mit den Händen gegen das Holz der Wände und roch am bemoosten Regenrohr. Als sie wieder neben ihm stand, wies sie mit ausgestrecktem Arm auf das Gebäude, das mit zugekniffenen Türen und Fenstern niedergekauert im hohen Gras hockte.
    »Otworz oczy, maty domku«, sagte sie. »Jestesmy.«
    Mach die Augen auf, kleines Haus, wir sind da. Von ihr gesprochen, klang der Satz wie die erste Zeile eines Gedichts.
    Die folgenden vier Wochen waren von einem blanken, blauen Himmel überspannt. Frau Smutek ging barfuß, trug abgeschnittene Jeans und badete mehrmals täglich im See. Ihr schneewittchenweißer Körper überzog sich mit einer cremefarbenen Tönung, und das glatte schwarze Haar wuchs noch schneller als sonst. Smutek fing Fische und briet sie auf dem Grill. Vierzehn Tage später verlangte sie nach Ausflügen in die Umgebung, und Smutek kutschierte sie bereitwillig überallhin. Ab und zu sprachen sie Polnisch miteinander, und es bot Raum für Späße, viel mehr Platz für Gelächter, als das Deutsche es jemals vermocht hatte. Am Ende der Ferien hatten sie sich für den Herbst verabredet. Zugedeckt mit den Spiegelbildern bunter Baumkronen, waren Masurens Seen fast am schönsten.
    Smutek verließ die Wohnung, fand seinen Wagen treu wartend am Straßenrand und fuhr mit dem sicheren Gefühl zur Arbeit, ein glücklicher Mann zu sein. Solche Momente gibt es. Sie sind nicht weniger trügerisch als Phasen grundloser Schwermut.
    Über den Konsum von Büchern
    S eit sie lesen konnte, las Ada viele Bücher. Das Lesen war weder Arbeit noch Hobby, es folgte keinem bestimmten Interesse. Lesen war ein Zustand, in dem die Zeit verstrich, weil sie nicht anders konnte, während Adas Verstand in Nahrung eingelegt wurde, so dass seine hektische Gier in ein gleichmäßiges Einsaugen und Verwerten überging. In der Zwischenzeit durfte das Gemüt aufatmen und für ein paar Stunden die Füße hochlegen, wie ein erschöpfter Maschinist, der rund um die Uhr eine gefährliche Hochleistungsapparatur zu bedienen hat. Ada las, wie man Stämme in ein Sägewerk schiebt. Weil sich von den dicken, harten Klötzen am längsten zehren ließ, mochte sie vor allem die Literatur des vorletzten Jahrhunderts und alles, was vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden war. Neuere Werke hielt sie für Ablenkungsmanöver von den großen Gegenständen, sie waren leicht und süß, etwas wie Popcorn, das man konsumieren muss, während der Kopf mit anderen Dingen beschäftigt ist. Dies galt vor allem für die Bücher deutscher Autoren, jedoch nicht für Arno
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