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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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Inhaftierung erschreckte ihn anfangs wie ein jähes Aufblitzen von Wahnsinn an einem rundum gesunden Menschen. Im Lauf der Zeit gewöhnte er sich daran und erkannte Teile davon in den Mienen der unterschiedlichsten Personen wieder, wenn sie von seiner Inhaftierung erfuhren, bis schließlich die Große Wende die Fronten verwischte und die Idee verblassen ließ, dass jedes Opfer der Bolschewiken ein notwendiger Freund der frei und gerecht denkenden Westler sei.
    Schon damals sprach die künftige Frau Smutek davon, nach Abschluss ihres Biologiestudiums noch viel weiter gen Westen ziehen zu wollen. In den Unterrichtsstunden am polnischen Institut, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestritt, formte sie die Wörter ihrer Muttersprache überdeutlich und langsam, als wollte sie sich an den Lauten Zähne und Lippen nicht schmutzig machen, und behandelte die Grammatik mit der gestelzten Vorsicht eines Naturschützers bei der Entsorgung von Sondermüll. Von ihr lernten die Schüler in atemberaubender Zeit. Smutek, der sich keinen Sprachkurs am Goethe-Institut leisten konnte, saß dabei und versuchte, ihre Polnischstunden in umgekehrter Richtung nachzuvollziehen. An den Nachmittagen drillte sie ihn weiter mit militärischer Strenge, und nach einem knappen Jahr sprachen sie deutsch miteinander.
    Selbstverständlich war Frau Smutek nicht so dumm zu glauben, dass die Menschen im Westen besser seien als jene im Osten. Vielmehr ging sie davon aus, dass die Anordnung von gut und böse auf dem Globus allein dem Geschäftsverteilungsplan des Schicksals obliege, womit sie nicht sagen wollte, dass alles vom Zufall abhänge, sondern dass Gott komplizierter als eine Behörde sei. Den Mauerfall verbrachte sie stoisch im Zimmer über ihrer Diplomarbeit, während Smutek mit den anderen Karnevalisten durch die Straßen taumelte und das Ergebnis einer politischen Absprache hochleben ließ, die er nicht verstand. Wenn im Verlauf einer Diskussion der politische Dämon in ihr erwachte, nannte sie den Begriff >friedliche Revolution< ein Oxymoron und begann davon zu sprechen, dass ohne Blutopfer der infizierte Teil einer Bevölkerung nicht ausgetauscht werden könne, weshalb es nichts als eine Lach-nummer sei, die gleiche alte DDR plötzlich >NEUE Bundeslän-der< zu nennen. Sie wollte nach Westdeutschland, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und den >Ostblock-Ostbluff< zu bringen, und als sie sich bereit erklärte, bis zum Ende von Smuteks Ausbildung mit ihm in Berlin zu bleiben, wusste er, dass sie ihn liebte. Weil ihm nach der politischen Wende die Abschiebung drohte, heiratete sie ihn, und mit ihrer Arbeit finanzierte sie sein Lehramtsstudium.
    Der Bundeshauptstadt begegneten sie on the road: Während sie von Bonn nach Berlin umzog, bewegten Smutek und Frau sich im Führerhaus eines Speditionslastwagens in entgegengesetzter Richtung. Der alte Singsaal hatte nicht einsehen wollen, einen polnischen Deutschlehrer nur deshalb nicht einzustellen, weil er Pole war, und hatte Smutek aus diesem Grund allen anderen Bewerbern vorgezogen. Die Seligkeit seiner Frau milderte Smuteks Abschiedsschmerz. Während für ihn Berlin zu einer zweiten Heimat geworden war, zu einer Stadt, die ihm alles beigebracht hatte, was er im Leben zu brauchen glaubte, erblickte Frau Smutek in Berlin einen Cerberus des Ostblocks, wohingegen Bonn das zarte Herz jenes leise verendenden Reichs war, in das es sie seit fünfzehn Jahren zog. Das Reich hieß >Westen< und erlebte gerade seine Abschaffung zugunsten eines grenzenlosen geographischen Wolpertingers, in dessen Bauch die Nationen Europas zu Brei verdaut werden würden. Frau Smutek hoffte mit ganzer Kraft, ein Stück westlichen Geistes möge in den Aufbewahrungstempeln der früheren Kapitale überdauern, wenigstens noch ein paar Jahre, vergessen und geschützt hinter der Spielzeug-Skyline am Rhein, die man so gut aus den täglichen Nachrichten kannte.
    Smutek bereute seine Entscheidung nicht. Zwar ließ er in Berlin einen großen Freundeskreis und eine semiprofessionelle Basketballkarriere zurück, aber gleichzeitig verehrte er seine Frau und wollte sie an einen Ort bringen, an dem sie glücklich werden konnte. Er würde ihr nie vergessen, was sie für ihn getan hatte und dass sie nie auf die Idee gekommen war, ihn auf dem Höhepunkt seiner Träume und Erwartungen zugunsten eines anderen zu verlassen. Wie Schneewittchen war sie aus Schwarz, Weiß und Rot erbaut, die Blicke der Männer schossen harpunengleich in
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