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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Autoren: Jutta Voigt
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schick.
    Wusstest du, sagt Konrad, dass der Mensch nur zwei Gene mehr hat als eine Fruchtfliege?
    Du wahrscheinlich zwei weniger.
    Wenn hundert Fruchtfliegen vor eine Lampe gesetzt werden, fährt er fort, krabbeln siebzig Fliegen auf das Licht zu, die anderen dreißig bewegen sich weg vom Licht, die haben einen freien Willen.
    Du bist eine von den dreißig willensstarken Fliegen.
    Niemand vermag zu sagen, wohin eine Fruchtfliege im nächsten Moment aufbrechen wird, sagt Konrad.
    Doch, ich. Du fliegst jetzt zur Nuova Strada und holst mir meine blaue Jacke, mir ist kalt.
    Konrad erhebt sich: Die Fliege ist das Geschöpf, das am schnellsten fliegen kann. Gott schütze die Königin! ruft er im Gehen laut durch das Lokal, er weiß, dass ihr das peinlich ist. Obwohl sie das Spiel gern spielt: sie die Königin und er ihr Diener.
    Haben sie nicht immer schon gespielt, das Leben ein Spiel? Der Mensch spiele nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er sei nur da ganz Mensch, sagt Schiller, wo er spielt. Sie spielen, seit sie sich kennen. Mannequin und Intellektueller, Braut und Bräutigam, Studentin und Analphabet, dann Mann und Frau, dann Mama und Papa. Vor zehn Jahren war Die Königin und ihr Diener dazu gekommen, Konrad übernahm die Rolle des alten Dieners. Er macht Frühstück und serviert Sylvie den Tee am Nachmittag. Alles, was an Konrad alt ist, hat er in die Gestalt des Dieners Franke verlagert: die Pingeligkeit, die er seit einiger Zeit kultiviert – im Besteckkasten müssen die Teelöffelnach Osten zeigen, die Kuchengabeln nach Westen. Die abergläubische Marotte, beim kleinsten Stolpern den Fehltritt zu korrigieren, was zu aberwitzigem Tänzeln führt. Vergesslichkeit, Schlurfen, seltene Rasur, Selbstgespräche. Diener Franke isst den Roquefort, der weg muss, weil er nichts wegwerfen kann. Diener Franke hat sich bei Glatteis die elfte Rippe gebrochen, Elfie nannte er sie. Diener Franke hat ein Lungenemphysem. Diener Franke hört schwer. Wer ist der alte Kerl im Spiegel? Diener Franke. Konrad hat das Alter von sich abgespalten, alles Franke. Und Sylvie schreibt Zettel: »Franke! Tee um 15.45. Königin«.
    Andere Namen hat sie ihm gegeben, seit sie sich kennen. Bonifacius Buttermandel, Erich Sömmerda, Benjamin Schnitzke, er ist doch viele, nicht nur einer, auch sie ist viele, nicht nur eine. Den Dienernamen hat Konrad bestimmt: Franke; Franke reimt sich auf Danke. Der Alltag ist das Wichtigste, besonders das Frühstück. Keine Ehe wie die von anderen wollten sie führen, ernst und stumm und nachtragend. Jeder Tag sollte neu sein, heiter, keiner ohne Lachen. Die Sucht nach Leichtigkeit hat sie verbunden, die Lust am Spiel.
    Plötzlich, wie immer, wenn Sylvie glücklich ist, kommt die Angst, die Angst vor dem Glück, denn Glück zieht Unglück nach sich, weil sie das Glück doch gar nicht verdient hat. Glück ist für Sylvie die Abwesenheit von Unglück. Vor drei Jahren war das, als Konrad überstürzt ins Krankenhaus musste, weil er schreiende Schmerzen hatte. Sie erinnert sich an einen langen, schattigen Gang. Wie der Arzt auf sie zukam und sagte, es sei außer der Lungenentzündung ein Virus im Spiel, ein unbekannter Virus, den Konrad von einer Reisenach Ecuador mitgebracht hatte, und dass man nicht wisse, was man tun solle, dass man mit Ecuador telefonieren würde, um sich zu konsultieren. Wie sie jeden Morgen zitterte, wenn sie im Krankenhaus anrief. Ob er das Handy hörte, ob er lebte, ob es ihm besser ging. Glück, davon ist Sylvie überzeugt, Glück ist die Abwesenheit von Unglück.
    Bin Sklave dir, du Königin – Konrad ist zurück und hängt ihr die Jacke schwungvoll um die Schultern, Operette, der klassische Kavalier. »Niemand liebt dich so wie ich« – den alten Schlager hatten sie bei einem Geburtstagsfest vor vielen Jahren hintereinanderweg von der LP gespielt, und alle hatten mitgesungen. Sylvie trinkt hastig, die Angst soll weg, sie will den Ort wechseln: Wollen wir nicht rüber ins Paradiso perduto?
    Warum, unser Paradies ist nicht perdü. Hier soll eine Vertreibung ins Paradies stattfinden – Konrad teilt es dem Lokal mit, laut: Vertreibung in ein Paradies, das verloren ist!
    Hör auf, so benimmt sich kein seriöses altes Ehepaar – sie wuschelt ihm die Haare zurecht, sie kann nicht leiden, wenn er so cäsarisch aussieht, wie ein alter Junge soll er aussehen.
    Ich bin nicht seriös – Konrad bestellt eine neue Flasche Wein, indem er dem Jungen an der Theke die leergetrunkene
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