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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Autoren: Jutta Voigt
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hochhält.
    Wir sind beide nie seriös gewesen, sagt Sylvie, das ist es, nur darum sind wir so lange zusammen. Denk an Prag, Hotel Europa! Die Gäste unten im Café konnten sich nicht vorstellen, dass wir es sind, die Papierkügelchen auf sie werfen, wir, das ältere Ehepaar auf der Empore. Sie guckten immer wieder nach oben. Dabei saß da oben niemand außer uns; sie sahen es genau,aber sie konnten sich’s nicht vorstellen. Stimmt, wenn einer von uns seriös würde, wären wir verloren.
    Das wäre wirklich das verlorene Paradies, il paradiso perduto, sagt Sylvie.
    Im Frühling waren sie umgezogen. Der letzte Aufbruch. Die fünfte Wohnung in einem halben Jahrhundert. Fünfzig Quadratmeter weniger, und genau die haben sie aussortiert, fünfzig Quadratmeter Möbel, Kleider, Bücher, Zeitungen, fünfzig Quadratmeter Leben. Bei früheren Umzügen hatten sie alle Kisten und Kästen so mitgenommen, wie sie waren, unaufgeräumt; da war die neue Wohnung jedes Mal größer als die alte. Diesmal kam es Sylvie vor, als würde sie ihren Nachlass ordnen, all die Briefe, Zettel, Fotos, all das, was irgendwann mal wichtig war, alte Fahrscheine, Flugtickets, geheime Billets doux, vergessene Geständnisse auf Restaurantrechnungen; alles, was man so aufhebt in der romantischen Annahme, man könne das Leben festhalten, indem man seine Zeichen arretiert. Sie las jeden Zettel dreimal, sah jede Kinderzeichnung sechsmal an, bevor sie entschied, welche sie aussortierte, und sie ertappte sich bei dem Gedanken: Da haben Sophie und Julie nicht so viel am Hals, wenn wir tot sind.
    Konrad hatte überraschend erklärt, dass er die Bücherregale in Angriff nehmen werde. Er, der nichts wegwerfen konnte, er, der Kustos und Bewahrer der häuslichen Bibliothek, hielt unerwartet streng Gericht. Nicht: Was kann weg?, sondern: Was darf bleiben? Buch für Buch musste sich für seine Anwesenheit rechtfertigen, eine Abrechnung mit durchlebten Zeiten. Verlässliche Wegbegleiter schienen urplötzlich verfallen, literarisches Wegekraut. Sylvie hatte ein paar Standardwerke ihres Philosophiestudiums auf die Stapelgelegt, die abgeholt werden sollten zu gemeinnütziger Verwendung. Konrad hatte zwei davon schweigend wieder weggenommen. Sylvie tat, als hätte sie nichts gesehen. Die kriegen prima Bücher da in ihre Altersheime!, hatte er mit beiläufiger Fröhlichkeit gerufen, während er die beiden dunkelblauen Bände in Sicherheit brachte.
    Hätte ich nicht gedacht, dass du so mitmachst bei der großen Müllabfuhr.
    Dienst ist Dienst, Königin.
    Danke, Franke, bravissimo, möchtest du eine Mousse au chocolat?
    Als sie am Tag des Umzugs in ein Haushaltwarengeschäft gelaufen war, Haken kaufen, hatte sie unterwegs junge Männer mit nacktem Oberkörper gesehen, die zogen auch um, ein Robben&Wientjes-Auto reichte ihnen. Sie ließen sich Zeit, trugen nicht alles auf einmal hoch, machten die Anstrengung zum Spaß. Tisch und Stühle ließen sie vor der Haustür stehen, Picknick zwischen Autogehupe und Straßenbahngequietsche. Wein und Brot hatten sie auf den Tisch gestellt, eine Rose in einer Bierflasche. So zieht man nur um, wenn man jung ist. Stell dir die Szene mal vor mit Leuten in unserem Alter, weißhaarig, glatzköpfig, Wein trinkend auf der Straße, am hellerlichten Tage zwischen Gebrauchtmöbeln – würde irgendwie nicht so anmutig wirken, sagt Sylvie.
    Sie waren im selben Haus umgezogen und konnten zusehen, wie ihre ehemalige Wohnung ausgeweidet wurde. Alles, was der Totalsanierung im Wege stand, wurde rausgerissen. Das schöne alte Stabparkett, das sie einst Stab für Stab aus der vorigen Wohnung mitgenommen hatten. Das sie zusammen mit FreundenStab für Stab vier Treppen hoch geschleppt hatten und Stab für Stab wieder verlegen ließen – jetzt noch ein unansehnlicher Haufen unten auf dem Hof, wochenlang, bei Regen und Sturm. Gedemütigtes altes Stabparkett! Metaphorisches Material die Menge, sei gedemütigt oder vergiss es!
    Unsere fünfte Wohnung, sinniert Konrad, jeder Umzug ein Neustart, aber noch mal ziehen wir nicht um, das ist jetzt unsere letzte Wohnung.
    Hoffentlich, sagt Sylvie, hoffentlich.
    Die erste war die kleinste gewesen, eineinhalb Zimmer, parterre, »schwer vermietbar«. Den Fußboden im großen Zimmer hatten sie blau gestrichen, königsblau. Das kleine Zimmer war als Salon eingerichtet, alles schwarzweiß, die Sessel, die Vorhänge, der Fußboden. Sie haben ihren »Salon« nie benutzt, alles spielte sich im großen Zimmer ab, schlafen,
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