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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Autoren: Jutta Voigt
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fatale, »schön wie ein Engel, böse wie ein Dämon«, wie Madame de Villeparisis, deren Altersverfall Marcel Proust in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« beschreibt. Aus der einst bewunderten und gefürchteten Schönheit war »eine abscheuliche, kleine, rotgesichtige Bucklige« geworden.
    Goldene Hochzeit, spricht Sylvie vor sich hin, Goldene Hochzeit, Goldene Hochzeit. Als könne die Wiederholung den beiden Wörtern das Unfassbare nehmen und das Vergehen der Zeit weniger fremd erscheinen lassen. Fließt die Zeit oder weht sie, steht sie oder vergeht sie, ist sie ein Gefühl, ein Gesetz oder ein Geheimnis? Sie schreibt eine SMS: Hast du die Zeit gesehen, Konni? Er antwortet: Nicht persönlich, sie war in Eile.
    Konrad hatte Sylvie einst bei den Schularbeiten in Kunstgeschichte geholfen, einmal verhalf er ihr zu einer Eins, einmal zu einer Fünf. Kennengelernt hatten sie sich in der Möwe, einem Club für Künstler. Das Palais derer von Bülow war nach Kriegsende von der Sowjetmacht für die deutschen Künstler beschlagnahmt worden. In dem holzgetäfelten Speisesaal bekamen sie nach dem Krieg zu essen, damit sie zu Kräften kamen und den Faust aufführen konnten und Die Zauberflöte, Mutter Courage und Die lustige Witwe. Das blieb so über vierzig Jahre, Schweinesteaks, Ginfizz und Amüsement zu ermäßigten Preisen, ein exklusiver Ort.
    Bevor sie Konrad kannte, war Sylvie ein einziges Mal dort gewesen. Das Restaurant hatte sie mäßig interessiert, die Bar war es, Ort der Versprechen und Erwartungen. Gedämpftes Licht, halbrunder Tresen, Kamin, der Barkeeper in weißem Dinnerjackett. Gloria und Sylvie hatten am frühen Abend da gesessen, an einem Ginfizz genippt und geguckt, wer zur Tür reinkommt, »Love me tender« hatte Elvis Presley vom Tonband gesungen. Da erschien in der Tür ein Sänger vom Metropoltheater. Der schwarzhaarige Operettenbeau musterte mit arrogantem Blick die beiden Babydolls an der Bar, wechselte ein paar Worte mit dem Keeper und verschwand. Gloria wurde weißer als der Puder auf ihremGesicht, sprang auf und kündigte an, dass sie sich aus der S-Bahn stürzen würde. Sylvia ging mit ihr und hielt sie fest in der S-Bahn: Nicht wegen dem, Glory, der singt doch bloß im Chor!
    Ein paar Wochen später wollte Sylvie mit drei Freundinnen in die Möwe, mit siebzehn hat man noch Träume, da wachsen noch alle Bäume in den Himmel der Liebe. Sie kicherten niedlich ins Gästebuch, bis Gertie auf einen Namen tippte: Konrad Ludens, den kenne ich. Die Garderobenfrau rief oben in der Bar an: Herr Ludens, hier sind vier junge Damen. Konrad kam die Treppe herunter, begrüßte die Mädchen und trug sie neben seinem Namen ins Gästebuch ein. Die Garderobenfrau protestierte: Vier Gäste, Herr Ludens, vier? Einen Gast durfte jedes Clubmitglied mitbringen. Seine drei Kollegen oben seien auch Clubmitglieder, entgegnete Konrad. Er hatte einen kanariengelben Pullover und grünschwarz gestreifte Röhrenhosen an, wie Marlon Brando sah der kein bisschen aus. Die Storchhosen wirkten nicht mehr ganz so katastrophal, als er im Laufe des Abends erwähnte, dass er sie von einem Gastspiel aus Paris mitgebracht hatte, aus Paris. Ein Trio spielte »Ich hab so Heimweh nach dem Schiffbauerdamm«, als Konrad und Sylvia sich in die Augen sahen. Er goss ihr das dritte Glas Rotwein ein. Ich werde aber nicht betrunken, hatte sie wachsam bemerkt.
    Konni verkörperte eine andere Welt, das hatte Sylvie sehr gefallen. Sie hatte drei Monate lang kein einziges Wort gesagt vor lauter Staunen und der Anstrengung, die Röte zu verbergen, die bei den frivolen Reden der Schauspieler ihr Gesicht überzog; Osram einschalten nannte man das, nach der Firma Osram, die Glühlampen herstellte.
    Das alles ist verdammt lange her und war doch gerade eben, gestern erst. So fühlen alle Alten, alle Alten fühlen so, nun auch ich, denkt Sylvie und hält ihr Gesicht in die Abendsonne. Es ist echt, dieses Gestern-erst-Gefühl, durch seine Wiederholung aber scheint es platt, abgenutzt, lächerlich. Ein milliardenfach vorgelebtes Gefühl ist kaum mehr als ein Gemeinplatz. Das Leben, gestern erst begonnen, morgen schon vorbei? Ja, was denkst denn du, Sylvie.
    Bei Konni war plötzlich eine Operation notwendig geworden. Sofort, unaufschiebbar, Sylvie war in Panik. Was soll denn sein, hatte er gesagt und seine Hand auf ihre gelegt, was soll sein, da ist was drin, was weg muss, die schneiden auf, holen das raus, nähen wieder zu, das wars; Konnis Romantik ist
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