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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs
Autoren: David Foenkinos
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überleben, hefteten sie sich an die Fersen ihrer Kundschaft; das heißt, sie machten ihre Eisenwarenhandlung fahrbar. Zogen von Stadt zu Stadt, stellten sich vor den Rathäusern oder auf den Märkten auf und richteten sich im Wanderdasein ein. So schlugen sie sich durch. Etliche Jahre später machten sie erneut ein Eisenwarengeschäft auf, im Osten Frankreichs diesmal. Um den vergangenen Zeiten so fern wie möglich zu sein.
     
    Für meine Großmutter war das eine fürchterliche Zeit. Man teilte ihr mit, dass sie die Schule abbrechen musste. Im Ton der Überzeugung verkündete ihre Mutter: «Es ist nur für ein paar Wochen
…»
So ging sie in der dritten Klasse mitten im Jahr von der Schule ab, verabschiedete sich von ihren Freunden und den Heften. Die Erdkundestunde, die die letzte Unterrichtsstunde ihres Lebens sein sollte, würde sie noch Jahrzehnte später nicht vergessen haben. Es ging um die höchsten Gipfel der Welt. Sie war am Boden zerstört, und man erzählte ihr vom Kilimandscharo und vom Mount Everest. Wie das Relikt einer unvollendeten Kindheit bewahrte sie diese Worte im Gedächtnis. Nach der Stunde kamen alle Kinder zu ihr und umarmten sie. Als sie das Klassenzimmer verließ, drehte sie sich noch einmal um und warf einen Blick auf die aufgereiht stehenden Schüler, die ihr Lebewohl winkten. Sie hielt diesen Augenblick in ihrer Erinnerung fest, wie sie alle dastanden, wie auf dem Klassenfoto. Nur sie selbst fehlte auf diesem Foto.

7
    Meine Großmutter hat viel durchgemacht, viele Schrecken erlebt, viele Tote gesehen. Ohne sich von alldem unterkriegen zu lassen. Sie hat sich so etwas wie einen Schmerzabwehrschild zugelegt. Keine Ahnung, woher sie die Stärke nahm, sich immer kraftvoll und beschwingt zu geben. Vielleicht fürchtete sie ja, man könne sie in ein Altenheim stecken? Vielleicht war ihr klar, was mit ihr geschehen sollte, noch bevor es uns klar war? Dachte sie sich, dass sie ihre schreckliche Bestimmung unbedingt hinauszögern musste, indem sie sich so lebhaft wie möglich gab? Es gab auch noch einen Zwischenfall, ähnlich dem mit der Toilettenseife. Eines Tages, als mein Vater zu ihr kam, lag sie im Wohnzimmer, von ihrer Schläfe tropfte Blut. Er blieb einen Augenblick wie versteinert stehen, glaubte, dem Tod seiner Mutter ins Auge zu sehen. Aber sie atmete. Er hatte sie zum Glück, kurz nachdem sie hingefallen war, gefunden, ließ sie ins Krankenhaus einliefern, wo sie rasch wieder zu Bewusstsein kam. Der Arzt raunte meinem Vater im Vorbeigehen zu, solche Stürze seien eine sehr häufige Todesursache bei alten Leuten. Ich wachte bei meiner Großmutter, als sie sich allmählich wieder auf dem Wege der Besserung befand. Auf ihrer Stirn glänzte der Schweiß. Es war heiß, der Sommer stand vor der Tür. Ich tupfte sie ab, so, wie sie mich abgetupft hatte, vorzwanzig Jahren, als ich die Windpocken gehabt hatte. Wir hatten nur die Rollen getauscht.
     
    Sie blieb noch ein paar Tage zur Beobachtung. Ein Wunder, dass sie sich nichts gebrochen hatte. Mein Vater und seine Brüder machten sich Gedanken über ein Altenheim, und einer meiner Onkel gab zu, sich sogar schon nach einem erkundigt zu haben. Sie taten so, als würden sie zögern, das Für und das Wider abwägen, aber eigentlich war die Entscheidung längst getroffen. Es gab gar keine Alternative. In ihrem Alter allein zu leben, war viel zu gefährlich. Die Tatsache, dass sie bei diesem Sturz noch einmal heil davongekommen war, deuteten alle als unmissverständliches Zeichen. Man handelte in ihrem Sinne, um sie zu schützen, man hatte gar keine Wahl. Einer meiner Onkel besaß zwar ein großes Haus, aber das lief aufs Gleiche hinaus. Er war oft verreist, und wenn er verreist war, wäre sie allein. Im Altenheim hätte sie immer Gesellschaft. Außerdem würden regelmäßig Ärzte nach ihr sehen, ihr den Blutdruck messen, das Herz untersuchen und was weiß ich. Sie wäre in Sicherheit, und das war doch die Hauptsache, oder?
     
    Die Generation, die zwischen meiner Großmutter und mir lag, bewahrte mich davor, mich an dieser Entscheidung beteiligen zu müssen. Ihre Söhne hatten zu entscheiden, nicht ich, ein Umstand, den ich als Erleichterung empfand. Erleichterung ist sozusagen die sanfte Ausgabe der Feigheit. Meine Großmutter erklärte auf der Stelle, dass sie da nicht hinwolle. Sie weigerte sich ein paar Tage lang zu essen. Sie sagte: «Ichwill zu Hause bleiben, ich will zu Hause bleiben, ich will zu Hause bleiben.» Sie sagte es drei Mal.
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