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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Autoren: Ralph Dutli
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winzigen klinischen Königreichen, denen die Besatzer kaum das Verbandszeug ließen. Sie schimpft, sie droht, sie stampft auf.
    Der Arzt versucht, Sie höflich von der Notwendigkeit zu überzeugen. Er will ihr entgegenkommen, fragt sie respektvoll:
    Marie-Berthe Aurenche? Hieß so nicht die Frau von diesem deutschen Maler Max Ernst? Wissen Sie, ich habe in Paris studiert und war damals von den Surrealisten begeistert. Nein, ich war verrückt nach ihnen. Ich schwärmte für Nadja, lief mit Bretons Buch durch die Straßen und phantasierte vom Revolver mit weißem Haar … Die Medizin war das eine, ich war sie meinem Vater schuldig, aber nachts streunte ich in den Cafés am Montparnasse herum, um diese verrückten Tiere zu sehen. Von Ernst liebte ich
Die nahe Pubertät
, die
Taumelnde Frau …
    Er hatte das Falsche gesagt. Und die taumelnde Frau hatte sie sofort auf sich bezogen. Wenigstens hatte er den Takt besessen, nicht Ex-Frau zu sagen. Jeder ihrer Bekannten wusste, dass man in ihrer Gegenwart den Namen Max Ernst nie mehr aussprechen durfte, sonst wurde sie zur Furie.
    Der Wahnsinn eines falschen Wortes, eines falschen Namens, taumelnde … Frau … Max … Ernst. Ein Wort braucht das Schicksal, um zu kippen. Es konnten zwei sein.
    Ja, Ma-Be war um ihn, ihre Stimme war überall, die plötzlich schrill werden und streiten konnte, er wusste es nur zu gut. Die Befehle erteilte, Vorwürfe machte, auf irgendeiner Sache beharrte, was er nicht hören konnte durch die Wand seines Schmerzes. Diese Handfläche, die mit übermüdeter, aber unerbittlicher Strenge auf den Tisch schlug. Sie war mit den Nerven am Ende. Die rasch sich folgenden Wechsel der Zimmer und Verstecke, das Feilschen mit den Bauern um ein halbes Dutzend Eier, das Gezerre um Brot. Sechsmal haben sie in Champigny die Unterkunft gewechselt. Das gesperrte Geld in Paris, die verbotenen Fahrten in die Hauptstadt, der von seinen Schmerzen aufgeriebene Maler an ihrer Seite. Sie wollte alles rasch beenden, oder zum Scheitern bringen, was nicht längst verloren war. Er hört nur ihr Kreischen und Drohen durch die Tür, als er auf dem Flur liegt und die weißen Gespenster sieht, die schweigend vorüberhuschen. Ein Rascheln, dann plötzlich Geflüster, das er nicht versteht. Ein Umriss, der auf ihn zutritt, seinen Arm nimmt. Ein kurzer Blitz.
    Auf dem Flur, wo er auf einem fahrbaren Krankenhausbett liegt, bis zu den Schultern von einem Laken bedeckt, ist niemand mehr zu sehen. Aber in seinem Ohr klingt eine einzelne Stimme.
    Da, nimm das weiße Laken. Deck dich zu. Spiel eine Leiche. Das müsste man malen können.
    Wo hat er die Sätze zum ersten Mal gehört? In Minsk, in Wilna? Gewiss nicht in Paris. Wer hat sie gesagt? Kiko oder Krem? Die Erinnerung ist älter als diese Provinzstadt an der Loire. Wo ist er jetzt? Gewiss nicht in Chinon.
    Tu so, als ob du tot wärst. Dann wird es leichter. So wird alles leichter. Du bist schon tot, kannst das Leben nicht mehr verlieren. Immer schon verloren, sind wir halb schon frei. Du kannst überhaupt nichts verlieren. Also gehst du leicht hinaus. Das müsste man malen können.
    Dann plötzlich Stille. Er schlägt die Augen auf, kneift sie jedoch sofort wieder zusammen. Öffnet sie noch einmal, wie um sicher zu sein, dass er nicht träumt. Am Ende des Flurs steht ein großer weißer Ziegenbock. Es gibt keinen Zweifel. Eindeutig ein Ziegenbock, mit großen, nach hinten geworfenen, aufsteigenden Hörnern, einem auffällig langen, fast bis zum Boden reichenden weißen Bart und üppigen, vom Hals abstehenden, herabhängenden weißen Zotteln. Wie nur war das Tier hereingekommen?
    Der Maler erinnert sich, dass er in einer Zeitschrift die Abbildung eines asiatischen Schraubenziegenbocks gesehen hat, mit seinen ungeheuren, V-artig sich in die Luft schraubenden, nah beieinander stehenden Hörnern. Der Bock blickte streng und intelligent aus dem Bild hervor, als sei er ein Gott unter den seinen. Es war ein Sonntag, er war am Seine-Ufer entlanggeschlendert, hatte bei einem der Bouquinisten die Zeitschrift aufgeschlagen und war vor dem Ziegenbock erschrocken, der ihn direkt anblickte. Hastig schlug er die Zeitschrift zu und warf sie auf den Stapel.
    Aber er ist es nicht. Nein, hier im Krankenhaus Saint-Michel steht am Ende des wie leergefegten Flurs ein großer, weißer Hausziegenbock, der sich jetzt langsam, mit hell tickenden Hufen auf den im fahrbaren Bett liegenden Maler zukommt, neugierig, mit kurzen, zunächst zögerlichen, dann
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