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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Autoren: Ralph Dutli
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beschleunigten Schritten. Die Verwunderung löscht alle Erinnerung. Was sucht er hier?
    Und dann ist er auch bereits beim Maler angekommen, dessen linke Hand über den Rand des fahrenden Bettes hinaushängt. Der weiße Ziegenbock schnüffelt leicht in die Luft, sein Kopf ist jetzt auf gleicher Höhe wie der Kopf des Malers. Seine gespaltenen Pupillen schauen dem Patienten geradewegs in die Augen. Ohne Vorwurf. Ohne Zorn. Und mit einer rauhen, kalten Zunge leckt er die herabhängende, salzige Hand, die Soutine nicht zurückzuziehen wagt. Er öffnet wieder sein rechtes Auge und blickt dem Ziegenbock direkt in die seinen. Er ist da. Er ist gekommen. Er ist weiß. Das genügte. Es war kein Traum.
    Dann wird eine Tür aufgerissen, der Maler schlägt beide Augen erschrocken auf, und der weiße Ziegenbock ist verschwunden. Der Flur belebt sich wieder, aus der Wand dringen beschwörende Satzfetzen, zornig abgebrochene Sätze, bedrohlich betonte Silben.
    Überschuss an Magensäure, chronische Entzündung, tiefe Schädigung der Magenschleimhaut. Das Wort
Perforation
glaubt er zu hören, und das Wort
Resektion
flößt ihm Angst ein. Das alte Geschwür hat die Magenwand durchbrochen, Magensaft tritt in die Bauchhöhle aus. Der Chirurg rät zur Operation, sofort, jetzt gleich, keine Minute Aufschub mehr. Gleich in die Anästhesie. Wir haben hier einen Notfall, Madame. In Paris können sie auch nicht viel mehr tun für Ihren Maler.
    Der Kranke will es selber so: Nur gleich, nur dass irgend etwas geschehen soll. Es muss nur endlich dieser Schmerz herausgeschnitten werden, nichts mehr aufschieben, nur jetzt und hier.
    Aber nicht hier, das sind doch Provinzscharlatane, Pferdemetzger, sagt Ma-Be, ein Spezialist soll dich operieren, nicht hier, in Paris. Gosset, Guttmann, Abramy, einer von den Ärzten, die dich kennen, wird wissen, wer dich retten kann.
    Sie ist der schnarrende, zischende Todesengel, der das Beste will und das Schlimmste verlangt, den Malermagen auf einer endlosen Irrfahrt zur letztmöglichen Operation begleiten wird.
    Die Entscheidung ist plötzlich da, gefragt wird er nicht mehr. Marie-Berthe hatte mit irgendwelchen Stimmen telefoniert. Dass es diese Geister noch gab in diesem Kriegsmonat August. In einer Klinik im 16. Stadtbezirk, von richtigen Ärzten soll er operiert werden. Der Name ist lang:
Maison de Santé Lyautey
.
    In Chinon bekommt er als gütige Wegzehrung von einer Ärztin eine Morphinspritze, die Dosierung ist riskant, das weiß sie, es muss möglichst lange vorhalten. Lannegrace hieß die Ärztin, sie stellte sich mit einer leisen Stimme vor, und er hörte in ihrem Namen nur
grâce
herüberhallen, die Gnade. Er dachte an Gnadenstoß, und seine Ohren hielten es für ein gutes Zeichen. Das großzügige, den Schmerz dämmende Morphin verspricht rasche Beruhigung, verteilt sich schnell über die Blutbahn im Körper und hüllt ihn in eine wattige Besänftigung.
    Am 6. August fährt frühmorgens der
Corbillard
vor, der den Schmerz nach Paris bringen soll. Nur hin in die Hauptstadt des Schmerzes, hatte sie nicht einer dieser verrückten Surrealisten so genannt, mit denen er nichts zu tun haben wollte? Ein streitsüchtiger Engel mit näselnder Stimme treibt das schon taumelnde Schicksal gleichzeitig zur Eile an und zu Umwegen. Um jeden Kontrollpunkt zu vermeiden, aber auch, um Bilder einzusammeln, verstreute Habseligkeiten, um Spuren zu löschen, die verschwinden müssen. Zur Eile und zu Umwegen – beides ist notwendig und beides unmöglich.
    Der Kies im Hof des Krankenhauses von Chinon knirscht unter den Reifen, dann kreischt er weiter in seinen Ohren, als sich der Leichenwagen an diesem Morgen in Bewegung setzt. Überhaupt die Geräusche in letzter Zeit. Das Auge war weniger hungrig, das hatte er gemerkt, genug gesehen, es hatte sich abgehetzt auf den schmalen Pfaden in Champigny-sur-Veude, jetzt waren die Geräusche plötzlich klarer, schriller. Das Geräusch verbündet sich gern mit dem Schmerz.
    Dem Maler schneidet das Knirschen ins Ohr wie in den Magen, als beginne jetzt gleich die Operation, die er sich herbeiwünscht wie nichts auf der Welt, denn der erst flatternde und benommen kreisende, dann tippende, nur wenig später zustoßende, bohrende und wühlende Schmerz, der seit Jahren zu seinem Körper gehört wie ein zusätzliches Organ, ist so unerträglich geworden, dass ihm schon der Schnitt, irgendein Schnitt in den Bauch wie die Rettung selber vorgekommen wäre. Man müsste sich wie ein Gemälde aus
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