Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute

Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute

Titel: Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute
Autoren: Jochen Till
Vom Netzwerk:
lesen. Hesse zum Beispiel. Demian . Das war ein wirklich gutes Buch. Oder American Psycho von Bret Easton Ellis. Ein Amerikaner, ich weiß. Trotzdem hätte ich gerne gesehen, wie sich einige von den Muttersöhnchen aus meinem Kurs beim Lesen die Seele aus dem Leib kotzten. Bret Easton Ellis. Dieser Bastard.
    »Wir warten, Herr Sonnenschein!«, zwitscherte Direktor Amsel.
    »Ich weiß«, sagte ich.
    »Also?«
    Verdammt. Immer fragten sie was mit Politik. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Der Untertan. Heinrich Mann. Hatten wir nicht den Film gesehen? Ich erinnerte mich dunkel. Ein Kaiser oder ein König ritt auf einem geschmückten Pferd an dem blöden Untertan vorbei und gab ihm die Hand oder so. Kaiser oder König? Vielleicht war es auch nur ein Prinz gewesen.
    »Es war zur Kaiserzeit«, riet ich.
    »Welcher Kaiser?«, fragte Amsel.
    Dieser Hund.
    »Der deutsche?«
    »Wie er hieß, möchte ich wissen, bitte.«
    »Karl?«
    »Sie wissen es nicht.«
    »Heinrich?«
    »Haben Sie das Buch überhaupt gelesen, Herr Sonnenschein?«
    »Otto?«
    »Sonnenschein!«
    »Natürlich habe ich das Buch gelesen«, log ich. »Ich kann mich nur nicht an den Namen erinnern.«
    »Gut, dann fragen wir etwas anderes. Herr Radtke?«
    Radtke kramte in seinen Unterlagen. Auf Anhieb fiel ihm wohl keine neue Frage ein. Ob er das Buch wohl gelesen hatte?
    »Ja, ähm, was hätten wir denn da als Nächstes? Ach ja. Beschreiben Sie den Charakter Diederich Heßlings. Bitte, Herr Sonnenschein!«
    Diederich Heßling, Diederich Heßling. Ach ja, das war der kleine Untersetzte aus dem Film. Der Untertan.
    Charakterbeschreibungen. Eine weitere Art, Schüler zu quälen. Erst Politik und dann das.
    »Er war ein Schleimer«, sagte ich.
    »Er war was?«, fragte Amsel.
    »Ein Schleimer. Ein Bückling. Ein Stiefellecker. Ein A r …«
    »Sonnenschein!«, fauchte Amsel dazwischen.
    »Ja, Herr Direktor?«
    »Bleiben Sie sachlich.«
    Sachlich. Ich sollte sachlich bleiben. Ein Charakter war doch keine Sache. Ein Charakter war ein Mensch. Blödsinn, sachlich.
    »Könnten Sie mir nicht ein paar direkte Fragen zur Geschichte stellen, bitte?«
    Natürlich war die Chance, eine andere Frage beantworten zu können, gleich null. Ich wollte nur weg von dieser verdammten Charakterbeschreibung.
    Meine drei Inquisitoren steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. Dabei sahen sie mich abwechselnd immer wieder an. Amsel guckte böse, Radtkes Blick war voll Mitleid und die Frau schien sich gerade vorzustellen, wie sich meine Hände wohl auf ihrer Brust anfühlen würden. Ich saß einfach nur da und grinste.
    »Sind Sie bereit für die nächste Frage?«, sagte Radtke endlich.
    »Sicher«, antwortete ich.
    »Gut. Wie war das Verhältnis Diederich Heßlings zu seiner Familie?«
    Der Kerl war verheiratet? Das war mir neu. Vielleicht hätte ich während des Films doch nicht Käsekästchen mit meinem Nachbarn spielen sollen. Mist.
    »Gut«, sagte ich.
    »Sonnenschein!«, fauchte Amsel wieder.
    »Nicht gut? Sie wissen doch, wie das mit Familien so ist, Herr Direktor. Mal gut, mal nicht gut. Von Tag zu Tag verschieden. Sie kennen das doch. Sie haben doch selbst Fam i …«
    »Sonnenschein!«
    Er wurde jetzt richtig laut und sein Kopf lief rot an.
    »Wollen Sie mich hier zum Narren halten?«
    »Nein. Herr Direktor. Wie käme ich dazu?«
    »Dann reißen Sie sich gefälligst zusammen und beantworten die Fragen!«
    »Jawohl, Herr Direktor.«
    »Vielleicht sollten wir das Thema wechseln«, schlug Radtke vor.
    Er meinte es wirklich gut mit mir.
    »Tun Sie das«, sagte Amsel.
    »Gut. Also, Herr Sonnenschein. Sie erinnern sich hoffentlich daran, dass wir Don Carlos durchgenommen haben.«
    »Schiller, Friedrich«, sagte ich schnell, bevor er dazu kam.
    »Das ist richtig, Herr Sonnenschein.«
    »Wenigstens etwas«, brummelte Amsel.
    »Also, Don Carlos . Wer war de r …?«
    »Entschuldigung, Herr Radtke«, unterbrach ich ihn.
    »Ja?«
    »Als wir Don Carlos durchnahmen, lag ich im Krankenhaus. Mein Arm. Wissen Sie noch?«
    Mein Arm. Ich hatte ihn mir im Sportunterricht beim 2000-Meter-Lauf gebrochen. Tatsache. Ich bin bestimmt der einzige Mensch der Welt, dem dieses Kunststück gelungen ist. Schuld daran war mein Sportlehrer. Dieser verfluchte Menschenschinder.
    Meine Kondition war nie die beste gewesen. Ich rauchte zu viel. Sprints, okay. Aber alles, was über die 40 0 Meter ging, machte meine Lunge nicht mit.
    Der 2000-Meter-Lauf. Fünfmal um den verdammten Sportplatz. In neun Minuten oder so,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher