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Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Autoren: Keith Donohue
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Vater zuletzt gesehen? Wenn die, die wir lieben, abtreten, sind wir einsame Schauspieler auf einer kahlen Bühne und murmeln unseren Text nur für uns selbst.
    Solche Tagträume um fünf Uhr morgens sind eine Folter für die Seele. Weckt man uns, und wir sind aus tiefem Schlaf und den unkontrollierten Träumen des Unterbewussten gerissen und noch nicht bereit, dem Tag ins Gesicht zu sehen, so sind wir zwischen den verschiedenen Wohnstätten der Seele gefangen. Zu früh, um aufzustehen, zu spät, um wieder zu Bett zu gehen. An jedem anderen Tag wäre ich so wie immer im Haus umhergetappt, hätte mir einen frühen Kaffee gekocht, die Zeitung gelesen und überlegt, wie ich die Arbeit vermeiden könne. Aber so gemächlich war es heute nicht. Das Haus wirkte auf mich wie ein fremder Ort, es duckte sich, als wollte es mich aus diesem Raum hinausdrängen. Die sieben Frauen, der kleine Junge und der alte Mann waren für so lange Zeit ein bedeutender Teil meines Lebens gewesen, dass ihre plötzliche Abwesenheit mich zutiefst bekümmerte. Trotz ihrer schändlichen Absichten waren sie mir mit ihren Geschichten eine angenehme Gesellschaft gewesen. Und nun empfand ich das Haus als leer und dennoch als zu klein, als wäre ich in seinen Wänden gefangen und in Raum und Zeit begrenzt. Der Kater kehrte zurück und schmiegte sich, ganz untypisch für ihn, in meinen Schoß. Ich kraulte das weiche Fell hinter seinen Ohren.
    Ein Ticken in der Ferne, ähnlich einem Herzschlag, hielt Schritt mit dem rhythmischen Ein- und Ausatmen, es kann aber auch das Rauschen des Sommers gewesen sein, das durch die Fenster drang. Ich lauschte der Stille und wurde ein Teil von ihr, und die Stille erfüllte mich mit Grauen.
    Alles verlangsamte sich. Mit dem Verschwinden der Geschichtenerzählerinnen hatte das Durcheinander der unmittelbaren Vergangenheit ein Ende, und mein Geist wurde wieder zu meinem eigenen. Wie die Meeresschnecke zog ich mich in meine spiralförmige Muschel zurück und rollte mich in der Embryohaltung zusammen. Als ich nicht älter als drei Jahre war – vielleicht ist diese Geschichte meine früheste Erinnerung, oder womöglich habe ich sie, da meine Eltern und mein älterer Bruder sie immer wieder erzählt haben, mir als Erinnerung zu eigen gemacht, und wer soll ihre Authentizität überprüfen? –, jedenfalls war ich damals in das verbotene Arbeitszimmer meines Vaters eingedrungen, hatte mich an seinen Schreibtisch gesetzt und dort einige Papiere gefunden. Beim Umblättern der Seiten, auf denen merkwürdige Glyphen, Buchstaben und Symbole notiert waren, entdeckte ich die Rückseite, die herrlich leer war. Wie ein Saboteur schraubte ich den Füllfederhalter meines Vaters auf und machte mich daran, Seite um Seite vollzukritzeln, wobei ich zweifellos manchen Entwurf aus den Untiefen meiner Fantasie holte. Irgendwann wurde mir bewusst, dass diese kreative Explosion meinem Vater, der in manchen Dingen ein recht strenger Mensch war, möglicherweise nicht gefallen könnte. Darum nahm ich die Papiere und warf sie, unter Zurücklassung forensischer Beweise wie verlegte Blätter und Tintenkleckse, in den Mülleimer. Als ich mich oben in meinem Zimmer wieder meinen eigenen Dingen zuwandte und mit meinen Bauklötzen spielte, wurde ich, als mein Vater von der Arbeit kam und den Tatort besichtigte, durch laute, erregte Stimmen aufgeschreckt. Ich spürte, dass ich in Schwierigkeiten war, und suchte deshalb den verstecktesten Ort auf, an dem man sich verkriechen konnte. Dort lag ich so geborgen wie in einem Grab und blieb auch während ihrer hektischen Suche nach mir dort liegen und ignorierte ihre Rufe. Dort schlief ich auch, bis ich Stunden später entdeckt wurde und meine Mutter mich auf ihren Armen ins Bett trug. In meiner Erinnerung war dieses Versteck dunkel und sicher wie ein Schoß.
    Jemand weinte. Das Weinen setzte leise ein und wurde lauter und lauter, bis ich den Ausgangsort dieses Leids ausmachen konnte. Hinter der geschlossenen Tür meines Schlafzimmers schluchzte jemand. Natürlich, die achte Frau im Bett. Beinahe hatte ich vergessen, dass sie da war. Ich scheuchte den Kater von meinem Schoß, stand auf und suchte nach der Antwort auf meine Fragen. Dieses Mal öffnete ich ohne Zögern die Tür und fand sie auf dem Bett.
    Wie zuvor war mir ihr Rücken zugewandt, sie war jedoch nicht mehr nackt. In einen schlichten weißen Sari gehüllt – die Farbe der Hindus für Trauer –, schien sie tief in ihrem Schmerz versunken. Die
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