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Sommergewitter

Sommergewitter

Titel: Sommergewitter
Autoren: Kristina Dunker
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erzählen. Er sprach davon, dass Ginies Mutter auch mal einen solchen Rock gehabt hatte wie das Mädchen, das gerade mit seinem Freund vorbeigegangen war. Beschrieb, wie sie sich kennengelernt hatten, wie Ginie geboren wurde. Zwischendurch machte er Pausen, fuhr Ginie durchs Haar. Sie zuckte nicht mit der Wimper. Aber ich wusste, dass sie zum Zerreißen gespannt war.
    »Sie war krank: Depressionen. Sie hat sich für nichts mehr interessiert, für nichts mehr begeistern, überhaupt keine Freude mehr am Leben empfinden können. Es fing ganz schleichend an. Ich hab erst gedacht, unsere Beziehung hätte eine Krise. Manchmal war sie auchfröhlich, wir konnten zusammen mit euch Kindern spielen und lachen, aber dann wieder wollte sie dich nicht einmal auf den Arm nehmen. Es fehlte ihr einfach die Kraft dazu.«
    Ginies Finger verkrampften sich, ich streichelte ihren Handrücken.
    »Du hast Bildchen für sie gemalt, Ginie, und sie hat sie nicht einmal angesehen. Ich habe alles Mögliche versucht, das kannst du mir glauben. Ich habe sie zu Ärzten gefahren und dich zur Oma gegeben, damit du es nicht so mitbekommst. Ich habe mich zerrissen, Ginie. Aber ich bin auch nur ein Mensch und ich war noch keine dreißig, ich dachte manchmal, mir stünde ein bisschen mehr vom Leben zu. Verstehst du, ich konnte sie auf keine Party mitnehmen, sie wollte nicht in Urlaub fahren, am liebsten immer zu Hause sein, sie ging nicht ins Kino, in kein Restaurant, keine Eisdiele und die Phasen, in denen sie es doch tat und normal war, wurden immer kürzer.
    An dem einen Abend haben wir sie überredet, mit zur Kirmes zu gehen. Alle gingen: deine Tante, dein Onkel . . . Nur sie wollte nicht. Ich hatte keine Lust, schon wieder zu Hause zu hocken, traute mich aber auch nicht, allein zu gehen. Sie war so schlecht drauf, dass ich sie lieber nicht aus den Augen lassen wollte.
    Wir tranken ein paar Bier, tanzten, fuhren Karussell, Achterbahn. Nach der Achterbahnfahrt ging es ihr schlechter. Dein Vater, Annika, wollte, dass wir sie nach Hause bringen. Ich nicht. Er behauptete, sie vertrage den Alkohol nicht. Wir wohnten ja zusammen in einem Haus: Oma, Opa, Kind und Kegel, und Bernd wusstealso über unser Leben bestens Bescheid. Das ärgerte mich sowieso. Ein Besserwisser war er für mich.
    Deine Mutter wollte nach Hause, aber ich noch nicht. Am Baggersee veranstalteten einige Leute ein Fest, so richtig mit Feuerchen und Musik. Ich schleppte sie mit. So war ich auch endlich meine Schwester und ihren Schlauberger los.
    Entschuldige, Annika, so sehe ich das natürlich heute nicht mehr. Wenn ich damals auf ihn gehört hätte . . . Aber ich wollte mir nun mal nicht immer was sagen lassen! Bitter bereut hab ich’s.«
    Ich nickte stumm. Diesmal wollte ich meinen Senf nicht dazugeben, wahrscheinlich war es für meinen Onkel so schon schwer genug, über diese Dinge zu sprechen.
    »Es war inzwischen spät und dunkel. Wir setzten uns zu den anderen Leuten in den Sand um das Feuer, es gab Sangria, die Musik war gut, einige tanzten. Es war schön, einfach romantisch. Die Leute waren sympathisch. Ich war schnell in ein Gespräch verwickelt. Dann wurde deine Mutter zum Tanz aufgefordert. Es war ein netter Typ. Er reichte ihr die Hand und sie nahm sie. Ich dachte: Okay, es ist einen Versuch wert, vielleicht gefällt’s ihr ja.
    Ich hab sie aus den Augen verloren, hab mich unterhalten. Ich konnte ja auch nicht immer nur auf sie achten! Dann, plötzlich, setzt sich dieser Typ wieder neben mich und sagt, mit der wäre ja gar nichts los.
    Ich frage: ›Wo ist sie denn hin?‹
    Er sagt: ›Die war müde. Wollte wohl nach Hause.‹
    Ich sprang auf, um sie zu suchen. Aber wo, Ginie, wo bitte? Im Wald? Auf der Straße? Zu Hause?
    Im See? Warum hätte ich ausgerechnet am Seeufer suchen sollen. Sie hat dem Mann, mit dem sie getanzt hat, gesagt, sie sei jetzt müde. Punkt. Mehr nicht. Sie hat ihm nicht gesagt, dass sie nach Hause wollte, das hat er sich nur so zusammengereimt. Er dachte: Menschen, die müde sind, gehen nach Hause und schlafen sich aus.
    Er dachte nicht: Die sind vielleicht lebensmüde und gehen in den See und schwimmen so weit raus, bis sie nicht mehr zurückkönnen.«
    Ginie schluchzte. Ich legte den Arm um sie.
    »Natürlich habe ich viel falsch gemacht, aber ich war auch völlig überfordert. Vielleicht hätte sie auch noch länger durchgehalten, wenn ich sie nicht gezwungen hätte, zur Kirmes und zu der Party zu gehen. Vielleicht hätte ich ihr ihre Ruhe lassen
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