Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommerbuch

Sommerbuch

Titel: Sommerbuch
Autoren: Tove Jansson
Vom Netzwerk:
Liste. Wenn man nur von Anfang an gewußt hätte, daß alle gerettet wurden, hätte man folglich dem Sturm volle Aufmerksamkeit und Bewunderung schenken können! Viele Jahre danach konnten die Küstenbewohner sich nicht treffen, ohne nicht einander zu erzählen, wie und was sie erlebt hatten, und wo sie sich gerade befunden und was sie gemacht hatten, als der Sturm kam.
    Jener Tag war warm, er war in gelblichen Dunst gehüllt, lange Dünungen gingen durch das Meer, wie ein kaum spürbares Beben. Später sprach man recht viel über den gelben Dunst und die Dünung, und viele erinnerten sich an die Taifune in ihren Jugendbüchern. Das Wasser war auch ungewöhnlich glatt und viel niedriger als sonst.
    Die Großmutter packte Limonade und Butterbrote in einen Korb, und sie erreichten gegen Mittag die Graue Nordschäre. Sophias Vater legte an der Westküste zwei Netze, während die Großmutter langsam für ihn wriggte . Die Graue Nordschäre strahlte immer eine tiefe Einsamkeit und Melancholie aus, aber sie konnten es nicht lassen, immer wieder dorthin zu fahren. Die leere Lotsenhütte war niedrig und länglich, den Steinsockel hatten Russen gebaut und mit Eisenkrampen im Fels verhakt. Auf der einen Seite war das Dach eingefallen, der kleine viereckige Turm war aber unbeschädigt. Hunderte von Seeschwalben sausten mit gellen Schreien um das Haus, die Tür war mit einem rostigen Schloß abgeriegelt, und der Schlüssel lag nicht unter der Treppe. Dort wuchsen Brennesseln dicht wie eine Mauer.
    Der Vater setzte sich ans Ufer, um zu arbeiten. Es war sehr warm. Die Dünung war höher geworden, und das starke gelbe Licht über dem Wasser stach ihm in die Augen. Der Vater lehnte sich an den Felsen und schlief ein.
    »Ich glaube, es gibt Gewitter«, sagte die Großmutter.
    »Und ihr Brunnen stinkt mehr als sonst .«
    »Der ist voll mit Leichen«, sagte Sophia.
    Sie schauten in das schmale Brunnenloch, an allen Zementringen entlang bis ins Dunkel. Sie rochen immer in den Brunnen hinein. Dann guckten sie sich den Abfallhaufen des Lotsen an.
    »Wo ist dein Vater ?«
    »Er schläft .«
    »Eine gute Idee«, sagte die Großmutter. »Weck mich, wenn ihr was Lustiges unternehmt !« Sie suchte sich einen Sandfleck zwischen den Wacholderbüschen aus.
    »Wann essen wir? Wann baden wir ?« fragte Sophia. »Wann machen wir auf der Insel einen Spaziergang? Sollen wir essen oder baden, müßt ihr immer nur schlafen ?«
    Es war heiß und still und einsam. Das Haus zog sich zusammen wie ein langes plattes Tier, und über das Haus flogen schwarze Schwalben mit gellen pfeifenden Schreien, sie waren wie Messer in der Luft.
    Sophia ging einmal das ganze Ufer ab und kam wieder zurück. Auf der ganzen Insel gab es nichts anderes als Klippen, Wacholder, Kopfsteine, Sand und trockene Grasbüschel. Himmel und Meer verschleierten sich durch den gelben Nebel, der stärker war als die Sonnenstrahlen und der in den Augen schmerzte. Die Dünung hob sich in langen Hügelketten gegen das Land und zerbrach als Brandung an den Ufern. Die Dünung war sehr groß. »Du lieber Gott, laß doch irgendwas geschehen«, bat Sophia. »Lieber Gott, mach mich fromm, aber ich langweile mich zu Tode, Amen .«
    Vielleicht trat die Veränderung ein, als die Schwalben still wurden. Der flimmernde Himmel war leer, es gab keine Vögel mehr. Sophia wartete. In der Luft war die Erfüllung ihrer Wünsche. Sie beobachtete das Meer und sah, daß der Horizont schwarz wurde. Die Finsternis breitete sich aus, und das Meer kräuselte sich vor Erwartung und Entsetzen. Es kam näher. Mit einem lauten, sausenden Flüstern kam der Wind zur Insel und lief weiter, dann war es wieder still. Sophia wartete am Ufer, das Schilf lag gegen den Boden, wie ein helles Fell. Jetzt fuhr erneut Dunkelheit über das Wasser, das war der große Sturm! Sie lief ihm entgegen, und der Wind umarmte sie, und sie glühte und fror zugleich und rief laut: »Sturm, Sturm !«
    Der liebe Gott hatte ihr einen eigenen Sturm gesandt, in seiner grenzenlosen Güte schaufelte er riesige Wassermengen zum Land hin, und sie stiegen über die Ufersteine, das Gras und das Moos, und sie brausten zwischen den Wacholderbüschen, und über den Boden trappelten Sophias harte Sommerfüße, während sie hin- und herlief und den lieben Gott pries. Alles spielte sich schnell und heftig ab. Endlich ereignete sich was!
    Der Vater war aufgewacht und erinnerte sich an seine Netze. Das Boot schlug mit der Breitseite gegen das Land, die Ruder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher