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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Autoren: J. Courtney Sullivan
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der Kinderzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Alice hörte ihn mit ernster Stimme sagen: »Das hast du dir selbst zuzuschreiben, das weißt du genau. Also zetere jetzt nicht.«
    Danach hörte man nur noch das Knallen des Gürtels auf dem weichen Kinderhintern, gefolgt von dramatischem Geschrei. So ein Verhalten war für ihren Mann ganz untypisch, aber es erleichterte Alice. Manchmal waren die Kinder nämlich richtige Monster, und Daniel hielt sie in Schach, sodass Alice wieder mit ihnen klarkam.
    Nach Daniels Tod erzählten die Kinder ihr, dass ihr Vater sie nie geschlagen hatte. Er habe sie nur nach oben gebracht, mit dem Gürtel ein paarmal auf die Matratze gehauen und sie angewiesen, bei jedem Schlag laut zu schreien.
    Alice erhob sich von ihrem Sitzplatz auf der Veranda, ging in die Küche und goss sich ein Glas Wein ein. Beim Anblick des über die Arbeitsfläche verteilten Geschirrs und Silbers seufzte sie. Sie hatte gehofft, es sich vor dem Abendessen noch mit einem Buch gemütlich machen zu können, aber der Inhalt der Anrichte verlangte ihre Aufmerksamkeit.
    Sie griff nach der großen Rolle Noppenfolie, schnitt ein paar lange Streifen ab und wickelte einen Teller nach dem anderen ein. Mit Zeitungspapier würde es schneller gehen, aber es wäre doch schade, wenn das Porzellan von der Druckertinte grau wurde, wenn sie es auch weggeben würde. Sie hatte kurz überlegt, das Geschirr Clare oder Ann Marie anzubieten, aber dann würden die beiden nur Fragen stellen, und Alice wollte nicht diskutieren.
    In letzter Zeit hatten ihre drei Kinder eine Sache gemein: Sie gingen ihr allesamt unglaublich auf die Nerven.
    Sie wollten, dass sie das Rauchen aufgab, zitierten Statistiken über die schlimmen Spätfolgen und zeigten mit der Frage auf die verfärbten Zimmerdecken, wie dann erst ihre Lunge aussehen müsse. Im letzten Frühjahr hatte sie eine brennende Zigarette im Aschenbecher auf dem Küchentisch vergessen, als sie mit Ann Marie zum Einkaufen gegangen war. Später trug ihre Schwiegertochter die Einkäufe für sie ins Haus und sah, dass die Zigarette auf den Tisch gefallen war und dort einen hässlichen Brandfleck hinterlassen hatte. Die Kinder waren vollkommen durchgedreht, obwohl ja nichts weiter passiert war.
    Sie fanden, sie trinke zu viel. Aber wen interessierte das schon? Himmelherrgott, sie war doch über dreißig Jahre lang ihrem Mann zuliebe trocken geblieben. Zu Thanksgiving hatte Patrick ihr eine Standpauke gehalten, von wegen Alkohol am Steuer, dabei hatte sie nur ein paar Cocktails getrunken. Alice hatte gelacht. Sie hatte sagen wollen, dass sie früher regelmäßig mit mehr als nur ein paar Cocktails intus gefahren sei – erst als junge Frau, dann während der drei Schwangerschaften, später mit den kreischenden Bälgern auf dem Rücksitz des Kombi –, und es immer gut gegangen sei. Vermutlich dachten sie an den Unfall, als sie noch klein waren, aber das war längst Geschichte und außerdem ein absoluter Einzelfall gewesen. Es gab doch genug Schlimmes in der Welt, und Alice fragte sich, warum ihre Kinder sich unbedingt auf hypothetische Katastrophen versteifen mussten, die eventuell irgendwann eintreffen könnten.
    Sie meinten, sie achte nicht sorgfältig genug auf ihre Ernährung und kontrolliere ihre Salzaufnahme nicht, wie vom Arzt verlangt. Ann Marie rief immer wieder mit warnenden Geschichten von der Verschlechterung der Diabetes ihrer Mutter an oder zitierte zu dem Thema Artikel aus USA Today , die ihr in die Finger geraten waren. Alice biss sich dann auf die Zunge, damit ihr nicht rausrutschte, dass Ann Maries Mutter zwar früher recht hübsch gewesen sein mochte, jetzt aber aussah wie Churchill im Badeanzug, wohingegen Alice, abgesehen von den Schwangerschaften, nie ein Gramm über vierundfünfzig Kilo gewogen hatte.
    Sie meinten, Alice solle ihr Geld besser zusammenhalten, weil sie im Winter im Haus eingesperrt mit einem Manhattan oder einem Glas Cabernet vor dem Fernseher saß und ab und zu etwas bestellte – eine Time Life CD-Sammlung, einen Pürierstab, der die perfekte Suppe innerhalb weniger Minuten versprach, und einmal für die Kinder ihrer Enkelin Patty sogar ein Modell der Holzhütte, in der Lincoln geboren worden war. Aber sie gab nie mehr als 19,99 aus. Um sich besser zu fühlen, ging sie einmal im Monat sonntags nach der Kirche ins Kaufhaus, legte sich ein Seidentuch um und ließ sich am Chanel-Stand Lippenstift und Mascara auftragen. Natürlich kaufte sie nichts. Aber sie
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