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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Autoren: J. Courtney Sullivan
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standen, die sie in den Zwanzigern verloren hatten. Aber am Grab würde sie nur auf ein Zeichen ihrer Gegenwart hoffen, dabei wusste sie doch genau, dass sie dort nicht waren.
    Alice hatte versucht, es zu vergessen, doch als sie am achtundzwanzigsten November den Boston Globe aufschlug, fand sie im Lokalteil eine ganzseitige Reportage über den Brand, sogar mit Fotos. Es wurde an die berühmtesten Opfer erinnert: Der alte Westernstar Buck Jones, der im Krankenhaus gestorben war, kurz bevor seine Frau ihn dort erreichte, um von ihm Abschied zu nehmen. Die Frau, deren Körper in einer Telefonkabine gefunden worden war, von wo aus sie ihren Vater angerufen und um Hilfe gefleht hatte. Ein Hochzeitspaar, das an jenem Tag in Cambridge geheiratet hatte und zusammen mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft in den Flammen umgekommen war. Und dann war da das Mädchen, das sie Jungfrau Maria nannten und die gestorben war, ohne je zu erfahren, dass ihr Liebster sie am nächsten Tag um ihre Hand hatte bitten wollen.
    Alice las den Namen ihrer Schwester, und während sie sich an jene Nacht erinnerte, plagte ihr Gewissen sie, wie schon seit Jahren nicht. Es gab niemanden, mit dem sie darüber hätte reden können. Ihre Kinder würden sie nicht verstehen, und Daniel war lange tot. Doch selbst wenn er noch gelebt hätte, hätte sie es nicht gewagt, sich ihm anzuvertrauen.
    Sie zwang sich dazu, an etwas anderes zu denken, aber schon wenige Minuten später brach sie beim Abwasch in Tränen aus. Ihre Brust schnürte sich zusammen, und sie dachte schon, es wäre ein Herzinfarkt.
    Alice wünschte, sie könnte zur Kirche gehen, zu ihrer Kirche, die sie durch Freud und Leid begleitet hatte. Dass es diesen Ort nicht mehr gab, machte den Schmerz oft noch unerträglicher. Sie konnte nicht vergessen, dass sie die Gemeinde nicht hatte retten können. Und dennoch überraschte sie die Tatsache von Zeit zu Zeit, dass die Kirche jetzt geschlossen war. Den Pfarrer von St. Agnes hatte man in eine Gemeinde nach Connecticut geschickt, und Alice wusste nicht, wie sie ihn dort erreichen konnte. Sie fühlte sich vollkommen allein.
    Da dachte sie an ihren Geistlichen für die Sommermonate, Pfarrer Donnelly. Mit zitternden Fingern wählte sie seine Nummer in Maine, ohne genau zu wissen, was sie sagen würde. Sechs Jahrzehnte lang hatte sie das Geheimnis bewahrt. Ihr war klar, dass Beichte hieß, nichts auszulassen, und dennoch erzählte sie Pfarrer Donnelly nur eine Version der Wahrheit. Danach kannte er nur die Teile der Geschichte, von denen auch Daniel schon gewusst hatte.
    Er war sehr freundlich gewesen und hatte gesagt, dass sie sich verzeihen müsse. Das Gleiche hatte ihr auch Daniel gepredigt.
    »Bitte«, hatte sie immer wieder gesagt, »erlegen Sie mir doch eine Buße auf. Sagen Sie mir, wie ich das wiedergutmachen kann.«
    Nicht einmal dem Pfarrer gegenüber konnte sie ihre wahnsinnige Angst vor der Hölle eingestehen. Aber ihr war klar, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
    »Wir müssen uns alle darauf konzentrieren, in der uns verbleibenden Zeit Gutes zu tun«, sagte er. »Es ist sinnlos, mit der Vergangenheit zu hadern. Überlegen Sie sich lieber, was Sie in der Gegenwart tun können.«
    Früher hätte ein Pfarrer sie beten oder Verzicht üben lassen und sie dann von ihren Sünden losgesprochen. In der Fastenzeit gab es keine Süßigkeiten, kein Parfum, keinen Gin, je nachdem, was einem das Liebste war. Aber heutzutage schienen sie es vorzuziehen, dass man Gutes tat: Ein Haus neu anstreichen, Spenden für Unicef sammeln, ehrenamtlich mit Problemkindern arbeiten. Was auch immer.
    Nachdem sie aufgelegt hatte, konnte sie freier atmen. Es war doch eine Erleichterung gewesen, es sich von der Seele zu reden. Dennoch goss sie sich ein Glas Wein ein und legte sich schon um sechs Uhr ins Bett.
    Einen Monat darauf, Weihnachten war gerade vorbei, war Pfarrer Donnelly bei Freunden in Boston zu Besuch und kam bei Alice zum Mittagessen vorbei. Er wollte wissen, ob es ihr seit ihrem Gespräch besser ginge, und sie sagte Ja, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie hatte seitdem viel an Mary gedacht, und Pfarrer Donnellys Worte hatten sich ihr eingebrannt: Überlegen Sie sich, was Sie in der Gegenwart tun können . Aber sie konnte ihre Schwester nicht wieder lebendig machen, ebenso wenig konnte sie sich von ihren Sünden erlösen.
    Sie servierte dem Pfarrer eine Geflügelpastete aus der Tiefkühltruhe, die sie schon ein paar Wochen zuvor zubereitet hatte.
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