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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Autoren: J. Courtney Sullivan
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sich irgendwann Ohropax besorgt hatte, um im Zuschauerraum ein Nickerchen halten zu können. Alice aber liebte diese Aufführungen. Sie hatte alle Programmhefte aufbewahrt. Aber jetzt hielten Clare und Joe ihr Ryan fern. Bei den vielen Vorsingterminen, Reisen und einem stressigen Alltag blieb für die Oma keine Zeit. Alice hielt das für eine schlechte Ausrede.
    Kathleen, die Große, hatte Alices schwarzes Haar und ihre blauen Augen, und als die beiden noch klein waren, war sie die hübschere Schwester gewesen. Aber auch das nur relativ. Sie hatte ein viel zu rundes Gesicht und schon im Jugendalter hatte man an ihren runden Hüften und Brüsten absehen können, dass sie ansetzen würde.
    Daniel meinte, dass Alice nie echte Muttergefühle für Kathleen entwickelt habe und sie auch so behandelte. Dafür hatte er sie verzogen und nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie sein Liebling war. So war es, als Kathleen noch klein war, so war es, als er ihr in der Zeit ihrer Scheidung das Sommerhaus zur Verfügung stellte, obwohl er das eigentlich mit Alice hätte absprechen müssen, und so war es auch noch kurz vor seinem Tod, was Alice ihm und Kathleen nie ganz hatte verzeihen können.
    Nach der Scheidung ging Kathleen nochmal zur Uni und studierte Sozialpädagogik. Ihre Kinder waren noch klein und brauchten sie. Aber Kathleen war tagsüber kaum zuhause und ging abends zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, als gäbe es da was umsonst. Später arbeitete sie dann als Vertrauensperson an einer Schule und ging mit lauter ungeeigneten Männern aus.
    Aus ihren Kleinen, Maggie und Christopher, war geworden, was bei einer kaputten Familie zu erwarten war. Chris hatte Wutanfälle. Als Jugendlicher hatte er einmal ein Loch in die Badezimmerwand geboxt, als seine Mutter ihm Hausarrest erteilt hatte, weil er sich heimlich aus der Wohnung schlich. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war Maggie zu bemüht, das brave Mädchen zu sein. Sie war zu höflich und zu sehr an anderen interessiert. Das machte Alice nervös.
    Nach Daniels Tod zog Kathleen mit diesem Gammler Arlo nach Kalifornien. Zu dem Zeitpunkt kannten die beiden sich gerade sechs Monate. Ihr Plan war – um genau zu sein, war es sein Plan – eine Firma zur Herstellung von Düngemittel aus Wurmexkrementen aufzubauen. Es war eine absurde Idee, und Alice schämte sich dessen bis heute. Besonders, weil Kathleen die Umsetzung dieses dummen Plans mit Daniels Erbe finanziert hatte. Aber Kathleen hatte ja auch schon vor Daniels Tod eine Menge Geld von ihm geliehen. Alice wollte gar nicht wissen, wie viel. Früher hatte sie geglaubt, was Daniel gehörte, gehöre ihnen beiden. Aber wenn dem so gewesen wäre, hätte sie wohl ein Stimmrecht in der Frage gehabt, ob sie Geld verschenkten. Das war aber nicht der Fall, wenn es um Kathleen ging. Sobald ihre älteste Tochter einen ihrer dummen, naiven Fehlgriffe tat, stand Daniel bereit, um alles wieder auszubügeln.
    Kathleen war schon als Jugendliche bei den gleichaltrigen Jungs beliebt gewesen.
    »Warum nimmst du deine Schwester nicht mal auf eine Party mit?«, hatte Alice Kathleen freitagabends oft gebeten. Oder: »Kannst du nicht einen netten Jungen für Clare finden?«
    Aber Kathleen hatte nur mit den Schultern gezuckt, als hätte sie Alice gar nicht richtig verstanden.
    Bei einer dieser Auseinandersetzungen war Alice so wütend auf ihre selbstsüchtige Tochter geworden, dass sie gebrüllt hatte: »Du solltest dankbar sein, überhaupt eine Schwester zu haben, du armselige Kreatur. Weißt du, was ich machen würde, wenn ich –«
    »Ja was würdest du denn machen?«, hatte Kathleen sie unterbrochen. »Was denn? Würdest du sie in irgendeinen Nachtclub schleppen und sie da sterben lassen?«
    Alice war sprachlos gewesen. Wie hatte Daniel ihrer Tochter das erzählen können? Es blieb das einzige Mal, dass sie eines ihrer Kinder schlug.
    Normalerweise überließ sie Daniel die körperliche Züchtigung der Kleinen, aus Angst davor, was sie in ihrer Wut und Frustration anrichten könnte. Sie hatten abgemacht, dass er die Kinder mit dem Gürtel schlug, wenn sie es brauchten. Alice hatte damit nie ein Problem gehabt. Ihre Geschwister und sie hatten viel Schlimmeres über sich ergehen lassen.
    »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt«, sagte sie zu den Kindern, wenn sie sich nicht benahmen, und sie sahen Alice dann mit großen, angsterfüllten Augen an.
    Wenn Daniel dann kam, zerrte er den jeweiligen kleinen Missetäter mit viel Theatralik in eines
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