Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Autoren: J. Courtney Sullivan
Vom Netzwerk:
und blieben in Maine, solange es ging. Wenn Daniels Chef bei der Versicherungsgesellschaft ihm nicht freigab, fragte Alice Rita, ob sie mitkommen wolle. Dann machten die beiden, jede mit einem Baby im Arm, die Antiquitätenläden in Kennebunkport unsicher und schlürften am Strand vor dem Haus Cocktails. An Regentagen gingen sie ins Kino oder fuhren an der Küste entlang. Eines Sommers bespielte Tallulah Bankhead vier Wochen lang das Theater von Ogunquit, und Alice und Rita besuchten zwei Vorstellungen, obwohl das Stück eigentlich nicht besonders gut war. Die Leute des Städtchens waren eine seltsame Mischung aus einheimischen Fischersleuten, Touristen, Schauspielern und Künstlern. Wohin man auch blickte, malte jemand das Meer, einen Sonnenuntergang oder geschickt arrangierte Hummerfallen. Alice vermied die Künstler. Im Ort hatte einer von ihnen, übrigens ziemlich gutaussehend, sie eines Morgens gefragt, ob er sie porträtieren dürfe. Sie hatte gelächelt, war aber weitergegangen, als hätte sie ihn nicht verstanden.
    An manchen Wochenenden bekamen sie Besuch von Alices oder Daniels Familie. Dann aß und trank man zusammen, sang zu Alices Klavierspiel irische Volkslieder und ging spät ins Bett. Wenn sie morgens von der Kirche zurückkam, legten sich Alice und ihre Schwägerinnen in einer Reihe in den Sand und ließen sich stundenlang die Sonne auf die nackten Beine brennen. Alice hatte dann ein Buch dabei, denn diese Frauen waren keine besonders gute Gesellschaft: Sie lehnten Klatsch aus moralischen Gründen ab und beneideten Alice offensichtlich um ihre Figur. Alice sehnte ihre Schwester Mary herbei, und manchmal vergaß sie fast, was geschehen war, und wartete darauf, dass Mary um die Hausecke bog.
    Am späten Nachmittag gingen die Frauen in die Küche, schälten Maiskolben und kochten Kartoffeln. Im Hintergrund lief eine Dean-Martin-Platte. Die Männer standen währenddessen in die Kohlen pustend um den Grill, als brauchte man acht Mann, um ein Feuer anzufachen.
    Dann kamen immer mehr Kinder dazu – die drei von Alice und Daniel und ihre zweiundvierzig Nichten und Neffen. Jahrelang wurde das Sommerhaus von einer Armee von Kindern belagert, und Alice gab es bald auf, die Zimmer in präsentablem Zustand halten zu wollen. Bis zum vierten Juli war auch das letzte Kind knallrot und sommersprossig, und ihr braunes Haar, besonders das der Mädchen, gebleicht, weil sie es nach dem Vorbild ihrer Mütter morgens mit Zitronensaft beträufelten. Fußsohlen, die am Tag der Ankunft weich und glatt gewesen waren, wurden durch wochenlanges Barfußlaufen über Stege und Dünen rauh und hart. Daniel meinte, dass sie am Ende des Sommers allesamt über Scherben gehen könnten.
    Umgeben von glücklichen Menschen, die dankbar waren, hier sein zu dürfen, konnte Alice in Cape Neddick vergessen. Die Kinder rannten mit ihren Cousins in Rudeln durch die Gegend und brauchten nichts. Abends beobachtete sie, wie sich der Himmel über dem Meer rot färbte. Es brachte ihr in Erinnerung, dass Gott nicht nur Schmerz, sondern auch Schönheit geschaffen hatte. Im Sommer in Maine war sie ein anderer Mensch.
    Zuhause in Massachusetts wurde sie von Erinnerungen heimgesucht. Wenn sie mit den Kindern allein war, hatte sie manchmal das Gefühl, alles würde ihr entgleiten. Eine düstere Stimmung überfiel sie unerwartet, und sie litt unter starken Kopfschmerzen, die sie oft ganze Nachmittage lang ans Bett fesselten. Ihr Alltag hier war von Natur aus langweilig, und Langeweile vertrug sie nicht. Wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht an den Herd stellen, über die Wäscheberge beugen oder den Küchenboden schrubben, als gäbe es nichts Schöneres. Ihr war etwas Anderes vorbestimmt. Das Sommerhaus in Maine war das einzige, das sie von den anderen unterschied, das einzige nicht Gewöhnliche an ihr.
    Mit zwölf oder dreizehn verkündete die Große, schon immer eine Miesmacherin, dass sie die Urlaube in Maine hasste. Die Luft sei mückenverpestet und das Wasser eiskalt, fand Kathleen. Es gab keinen Fernseher, und es war sterbenslangweilig. Vom jährlichen Ankunftstag zu Beginn des Sommers bis zum unvermeidbaren Morgen, an dem sie das Auto beluden, um nach Massachusetts zurückzukehren, jammerte Kathleen von da an: »Können wir jetzt zurückfahren? Wann fahren wir endlich zurück?«
    »Seltsam«, hatte Daniel einmal gesagt.
    »Ach, wieso denn?«, sagte Alice. »Sie muss gemerkt haben, wie glücklich ich hier bin und automatisch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher