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Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Titel: Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Autoren: Anna Maria Scarfò
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es mir vor, als würde ich merkwürdig laufen.
    Ich habe kaum geschlafen. Seit mindestens drei Stunden bin ich wach. Ich habe gehört, wie meine Mutter aufsteht und den Kaffee kocht. Und die Stimme meines Vaters. Meine Schwester ist auch wach. Ich bleibe mit dem Kopf unter der Bettdecke liegen, mit dieser Last zwischen meinen Beinen und den Eisfiguren in meinem Kopf, die sich langsam zurückziehen. Bis sie verschwinden. Und mein Kopf leer zurückbleibt. Vollkommen leer.
    Meine Schwester liegt auf dem anderen Bett und spielt mit ihrem Teddy. Sie erzählt sich und diesem Stofftier eine Geschichte. Ich beobachte sie verstohlen, nur ein Auge geöffnet, unter der Bettdecke. Welche Geschichten kann man einem Teddy schon erzählen?
    »Hast du Hunger? Großen Hunger? Soll ich dir ein bisschen Käse kochen? Ich kümmere mich um dich …«
    Meine Schwester spielt. Sie legt ihrem Bären ein Lätzchen um.
    Ich stehe abrupt auf. Öffne das Fenster. Ich brauche jetzt frische Luft und versammle alle meine Stofftiere auf dem Bett. Meinen Bären, den Hund, die Katze.
    »Was machst du da? Spielen wir jetzt zusammen?«, fragt meine Schwester ganz aufgeregt. Sie liebt meine Stofftiere. Und sie darf sie nie anfassen.
    »Was tust du?«
    »Ich packe sie weg. In den Keller.«
    »Schenkst du sie mir?« Sie vergisst ihren Bären und lässt sich auf mein Bett fallen.
    »Nein, du dumme Gans!« Ich versetze ihr einen Stoß, und sie bleibt mit schützend erhobenen Händen liegen. Der Blick aus ihren Augen ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ich nehme die Stofftiere und werfe sie auf den Boden. Das letzte nehme ich zwischen die Zähne. Ich will es totbeißen. Will es auffressen, zerstören. Ich fühle, wie der Stoff unter meinen Zähnen nachgibt. Das Kunststoffauge starrt mich an. Und ich zerre am Stoff. Immer stärker. Mein Speichel schmeckt nach Stoff. Und der Stoff ist von Speichel durchtränkt. Ich genieße diesen Augenblick und zerre noch stärker daran. Die Naht gibt nach, und das Ohr des gelben Bären löst sich, bleibt zwischen meinen Zähnen hängen. Ich werfe den restlichen Körper des verstümmelten Tieres meiner Schwester ins Gesicht.
    Sie hebt nicht einmal die Hände, um sich zu wehren. Nein, sie weicht nur zurück und sieht mich erschrocken an.
    Am liebsten würde ich sie ohrfeigen. In mir steigt Wut auf. Und Kraft. Sie darf meine Stofftiere nicht anfassen. Sie darf mich nicht anfassen.
    Doch das hält nur einen Augenblick an. Ich fühle, wie mein Kopf heiß wird und meine Hände schwer werden. Dann ist alles wieder wie vorher.
    »Ach, mein Schatz, entschuldige.« Ich stürze auf sie zu und umarme sie.
    Jetzt umarme ich sie fest und streiche über ihre Haare, die so schwarz sind wie meine. Sie hat doch nichts damit zu tun.
    Was ist bloß in mich gefahren?
    In mir war so viel Wut, die hinauswollte. Aber nun ist es vorüber. Ich streichle meine Schwester, gebe ihr viele Küsse auf den Hals, und sie lacht wieder. Hat zum Glück schon alles vergessen. Sie sieht mich nicht mehr so panisch an. Meine Schwester ist zwar noch klein, aber stark. Stärker als ich.
    »Der Hund, die Katze und der Bär können nicht mehr in meinem Bett bleiben«, sage ich zu ihr, als erzählte ich ihr ein Märchen. »Ich bin dreizehn Jahre alt und muss erwachsen werden.«
    Sie steckt einen Finger in den Mund und saugt daran, wie damals, als sie noch ganz klein war, und ich erzähle ihr flüsternd die Geschichte jedes einzelnen Stofftiers, und dabei kitzelt mein Atem ihr Ohr.
    Doch eigentlich will ich bloß nicht beobachtet werden. Beobachtet von wem? Von denen. Von meinen Stofftieren. Nicht heute. Von heute an nicht mehr. Ihre Augen starren mich an, und sie wissen Bescheid. Sie stehen dort aufgereiht auf meinem Bett, die Hüter aller meiner Geheimnisse, seit ich ein kleines Kind war.
    Ihnen habe ich immer alles erzählt. Diesen treuen und stummen Freunden.
    Ich werde niemandem erzählen, was gestern Abend passiert ist. Niemand wird es erfahren. Und die müssen schweigen.
    Sie aber wissen Bescheid. Der Hund, die Katze, der Löwe. Die beiden Mäuse mit dem herzförmigen Bauch. Der gelbe Bär.
    Ich mag sie nicht mehr sehen. Nein, ich muss ehrlich sein: Ich kann sie nicht mehr sehen.
    Ich bürste sie sorgfältig und lege sie in eine Tüte. Darüber vergeht der Tag. Das abgerissene Ohr lasse ich so, wie es ist. Ich zögere ein wenig, aber dann lasse ich es so.
    Ich mag nichts in Ordnung bringen. Ich weiß nicht, wie das geht. Deshalb lege ich das abgerissene Ohr neben den
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